Ich möchte die Novelle "Romeo und Julia auf dem Dorfe" von Gottfried Keller vorstellen. Sie erschien erstmals 1856 in der berühmten Novellensammlung "Die Leute von Seldwyla" und beruht auf einer wahren Begebenheit: dem Selbstmord zweier junger Menschen, deren Eltern ihnen ihre Freundschaft verboten haben und die sich damit nicht abfinden können.
In einer Zürcher Tageszeitung findet sich am 3. September 1847 folgender Artikel:
"Im Dorfe Altsellerhausen, bei Leipzig, liebten sich ein Jüngling von 19 Jahren und ein Mädchen von 17 Jahren, beide Kinder armer Leute, die aber in einer tödlichen Feindschaft lebten und nicht in eine Vereinigung des Paares willigten wollten. Am 15. August begaben sich die Verliebten in eine Wirtschaft, wo sich arme Leute vergnügen, tanzten daselbst bis 1 Uhr nachts und entfernten sich hierauf. Am Morgen fand man die Leichen beider Liebenden auf dem Felde liegen; sie hatten sich durch den Kopf geschossen."
Gottfried Keller, selber weder beruflich noch privat sehr erfolgreich, nimmt diesen Zeitungsartikel als Ansporn, nach Shakespeares Vorbild eine Liebestragödie zu schreiben. Er kritisiert mit seinem Buch die kleinbürgerliche Gesellschaft seiner Zeit, deren Normen ein glückliches Zusammenleben für die beiden Hauptpersonen unmöglich macht.
Zum Autor:
Gottfried Keller wurde am 19. Juli 1819 in Gladfeld bei Zürich geboren. Bereits 1824 starb sein Vater. Nach zwei Jahren heiratete die Mutter Elisabeth erneut; was folgte, war eine unglückliche Ehe, die 1834 wieder geschieden wurde. Von 1825 bis 1831 besuchte er die Armenschule, dann ein Landknabeninstitut, ab 1833 die kantonale Industrieschule, von der er im Juli 1834 wegen eines Schülerstreiches verwiesen wurde.
Eine gewisse Begabung zur Malerei brachte ihn auf die Idee Landschaftsmaler zu werden, doch bald stellte sich heraus, dass er auf diesem Gebiet keinen Erfolg haben würde. Daraufhin kehrte er im November 1842 aus München nach Zürich zurück. Eher zufällig versuchte er sich als Dichter: Er schrieb Gedichte und politische Tageslyrik. Keller gefiel sich als radikaler Demokrat, der alles Konservative mit glühendem Hass belegte.
Als in Zürich schließlich eine liberale Regierung an die Macht kam, durfte Keller 1848 als Stipendiat zum Studium nach Heidelberg gehen. Dort studierte er Philosophie. Besonders wichtig war ihm die Überzeugung, dass es kein Leben nach dem Tod gebe.
Da es also später nichts besseres mehr zu erhoffen gebe, müsse man mit allen Kräften seines Herzens diese Welt und dieses Leben in Ehrfurcht lieben und durch Menschlichkeit veredeln.
Später studiert er noch weiter in Berlin. Dort schreibt er viele seiner Bücher wie zum Beispiel den "Grünen Heinrich", in dem er von seiner Kindheit und Jugend erzählt, den "Apotheker von Chamounix" und den ersten Band der "Leute von Seldwyla".
Durch den "Grünen Heinrich" wurde er berühmt. Er kehrte nach Berlin zurück, um sich ein geregeltes Leben zu schaffen. Bald aber fiel er in eine schwere Depression und Schaffenskrise.
Im Jahre 1861 erhielt Keller ein hohes Amt in der Zürcher Regierung, er wurde Staatsschreiber. Da er sich mit Eifer dieser Tätigkeit widmete, verstummte seine Dichtung für einige Zeit. Nach Aufgabe seines Amtes, kam für Keller eine neue Schaffenszeit.
Er verfasste die Novelle "Kleider machen Leute" wie auch "Hadlaub" und "Das Fähnlein der sieben Aufrechten". Zu seinem 50. Geburtstag bekam er den Ehrendoktortitel der Stadt Zürich. 1888 starb Kellers Schwester, bei der er sein Leben lang gelebt hatte, zu Beginn des Jahres 1890 wurde er bettlägrig. Nach sechsmonatiger Krankheit starb Gottfried Keller am 15. Juli 1890 in Zürich. Keller gilt als der bedeutendste deutschsprachige Erzähler des 19. Jahrhunderts.
Zu den Personen:
Die Bauern Manz und Marti werden zu Beginn der Geschichte als "lange knochige Männer von ungefähr vierzig Jahren" beschrieben, die den sicheren, gutsituierten Bauern verkörpern. Es wird auch erwähnt, dass sie von der Entfernung einander in Aussehen und Bewegung vollkommen gleichen. Beide haben keine besonders gute Meinung von den Seldwylern. Keller wollte den Konflikt der beiden Väter nicht durch verschiedene Charaktere begründen, sondern zeigen, daß eine sehr nebensächliche Angelegenheit zwei Menschen entzweien kann. Daher zeichnet er die beiden Männer ähnlich. Sofort fällt auf, daß beide Namen mit den Buchstaben "Ma" beginnen (Manz, Marti). Außerdem zeichnet er auch das Aussehen und ihr Handen gleich.
Sali
Sali ist ein hübscher, kräftiger Bursche und der Sohn des Bauern Manz. Er ist ehrbar, sanftmütig, ruhig und zurückhaltend. Obwohl er eine der beiden wichtigsten Personen darstellt, wird er nur sehr knapp beschrieben. Später zeigt er sich gegenüber Vrenchen zärtlich, liebevoll und selbstlos. Er will durch seine Liebe zu ihr ihr Leben nicht zerstören.
Vrenchen
Vrenchen ist schlank, zierlich, sie hat dunkelbraune Haare und braune Augen. Eine Nachbarin beschreibt sie als "schön, klug, weise, arbeitssam und geschickt zu allen Dingen". Sie ist voller Tatendrank und Energie und versucht, das Beste aus ihrer Lage zu machen.
Zum Inhalt:
In der Nähe des Dorfes Seldwyla leben die zwei Bauern Manz und Marti Haus an Haus friedlich neben einander. Zwischen ihren Äckern liegt nur ein kleines Stück Land, welches brachliegt, da der Eigentümer unklar ist. Die beiden Bauern nützen diesen Vorteil in dem sie sich Jahr für Jahr ein Stückchen dieses Landes abzweigen. Auch ihre Kinder, Sali, der Sohn von Manz, und Vrenchen, die Tochter von Marti, 5 und 7 Jahre alt, spielen gerne auf dem wüsten Acker.
Eines Tages beschließt die Gemeinde den kleinen Acker zu versteigern und Manz ersteht ihn. Als er seinen neuen Acker \"inspiziert\" stellt er fest, daß sich Marti eine Ecke \"angepflügt\" hat. Er beschwert sich sofort, aber Marti weigert sich das Land zurückzugeben und so beginnt ein lang andauernder Streit bei Gericht. Die Prozessjahre treffen die Bauer finanziell sehr hart und sie verarmen zusehends.
Als Vrenchen 14 ist, stirbt ihre Mutter und sie muss den heruntergekommenen Hof alleine bewirtschaften. Manz versucht sein Glück in Seldwyla und übernimmt dort ein Wirtshaus, welches sich aber als ziemlich unrentabel herausstellt. So beginnt er mit seinem inzwischen 19 jährigen Sohn am Fluss zu fischen. Eines Tages trifft er dort auf seinen Erzfeind, der mit seiner Tochter ebenfalls fischt. Die beiden beschimpfen sich und werden handgreiflich. Ihre Kinder haben große Mühe sie zu trennen. Bei dieser Begegnung verliebt sich Sali in Vrenchen und beschließt, ihr einen Besuch abzustatten.
Hier ist der Wendepunkt der Geschichte: Die beiden Bauern werden Todfeinde, während sich die Kinder verlieben.
Bei ihrem Treffen gestehen sie sich diese Liebe ein und träumen von Heirat und einer besseren Zukunft. Am Heimweg begegnen sie aber Marti, der sofort durchdreht. Als Sali Angst um Vrenchen bekommt, schlägt er mit einem Stein auf den Bauern ein. Als dieser bewusstlos zu Boden sinkt, beschließen sie Hilfe zu holen, aber niemandem die Wahrheit dieses Vorfalles zu erzählen. Marti stirbt nicht, aber er muß von der Gemeinde in eine Psychiatrische Anstalt gebracht werden.
Vrenchen, die nun ganz alleine auf sich gestellt ist und Sali, der mehr den je unter dem Druck seiner Eltern steht, entschließen sich, bevor sie sich aufgrund der Aussichtslosigkeit ihrer Liebe trennen, noch einen Tag miteinander zu verbringen. Sie kratzen ihr gesamtes Geld zusammen und beschließen zu einem Fest einer Nachbargemeinde zu gehen. Sie essen gut, tanzen und vergnügen sich einen ganzen Tag lang. Am Heimweg nach Seldwyla erblicken sie ein kleines Boot und fassen den Beschluss, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sie besteigen das Boot und vermählen sich in dem sie sich gegenseitig Ringe anstecken. Sie lösen den Kutter und ertrinken gegen Morgen in den Stromschnellen des Flusses.
Vergleich zu Shakespeares "Romeo und Julia"
Ich möchte gerne einige Parallelen und Unterschiede zur Vorlage von Kellers Buch erwähnen.
Während in Kellers Novelle die Ursache des Streits offengelegt wird, ist sie in Shakespeares Version unklar. Den Bauernfamilien auf dem Dorfe stellen sich die wohlhabenden Capulets und Montagues gegenüber. Sali und Vrenchen kennen sich bereits seit der Kindheit, Romeo und Julia lernen sich erst kennen, nachdem sie sich ineinander verliebt haben. Bei Shakespeare ermorden sich die beiden Verliebten durch ein Missverständnis, in Kellers Buch glaubt das Paar, keinen anderen Ausweg zu haben. Kellers Novelle ist als ganzer Text verfasst, während Shakespeare in Versen schreibt. Die Handlung von "Romeo und Julia auf dem Dorfe" erstreckt sich über mehrere Jahre, während sie in "Romeo und Julia" nur wenige Tage dauert.
Eine klare Parallele findet sich natürlich schon im Inhalt des Stückes: Zwei Verliebten wird der Umgang miteinander verboten, weil ihre Familien verfeindet sind.
Ein weiterer Unterschied ist, dass sich die verfeindeten Familien nach dem Tod ihrer Kinder in Shakespeares Theaterstück im Gegensatz zu Kellers Novelle wieder versöhnen. Keller hat anders als Shakespeare kein Liebesdrama, sondern ein soziales Drama geschrieben, denn bei ihm steht nicht die Feindschaft der beiden Familien im Vordergrund, sondern ihr Niedergang.
Persönliche Meinung:
Mir hat das Buch sehr gut gefallen, auch, weil es wesentlich einfacher zu lesen ist als "Romeo und Julia" von Shakespeare. Der Text ist klar strukturiert und spannend zu lesen. Man bemerkt Kellers künstlerische Ausbildung: die Schilderungen der Natur und der Stimmungen gleichen Bildern, die er zeichnet. Er verwendet auch häufig Naturvorgänge als Vorboten der Ereignisse: Das goldene Getreidefeld in der Anfangsszene, die Bauern, die in entgegengesetzter Richtung pflügen, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt noch Freunde sind, Gewitter, Blitz, Donner, schwarze Wolken, die schwankende Brücke und der einsetzende Regen während des Kampfes zwischen Marti und Manz - all dies sind Sinnbilder für die fortschreitende Handlung und die sich entladenden Spannungen. Sie weisen aber auch auf die kommende Katastrophe hin. Der "schwarze Geiger", der im Buch häufig auftaucht, erscheint als Symbol des herannahenden Unglücks und des Todes.
Die Handlung des Buches ist interessant, der Stil zur beschriebenen Situation sehr passend und deshalb kann ich das Buch jedem weiterempfehlen.
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