Biografie
* geboren: 3. Februar 1887 in Österreich, Salzburg
- 1897 - 1905: Gymnasium, aber Abgang ohne Matura
- ab 1900: Schreiben erster Gedichte
- 1902: erste Drogenerfahrungen (Morphium, Opium, Alkohol)
- 1905: Apothekerlehre (erste Publikationen seiner Werke während dieser Zeit)
- 1908: Abschluss Apothekerlehre und Beginn eines Pharmaziestudiums
- 1910: Magister der Pharmazie, Melden zum einjährigen Militärdienst als Sanitätsfähnrich
- 1911: Innsbruck, lernte dort seinen größten Förderer Ludwig von Ficker kennen
- beim Ausbruch des 1. Weltkrieges wurde er ins Militärapotheker einberufen, erlitt nach der Behandlung von 90 Schwerverwundeten einen Nervenzusammenbruch und startete im September 1914 einen Selbstmordversuch
- gestorben: 2. November 1914, im Alter von 27 Jahren, an einer Überdosis Kokain in einem Krakauer Lazarett
- gilt heute als einer der bedeutendsten Vertreter des österreichischen Expressionismus
Kennzeichen von Trakls Lyrik
- Gesamtwerk geprägt von Schwermut, Trauer und Sehnsucht und Suche nach Gott
- zentrale Aussagen: Tod, Verfall, Untergang des Abendlandes
- Lyrik durchsetzt mit einer Vielzahl von Symbolen und Metaphern
- Leitmotive: Herbst und Nacht
Form und Sprache
- drei Terzette ohne Reimschema
- Enjambements
- Gedicht mit kommunikativem Aspekt:
* Appell an sympathisierenden Leser, der durch "unser", "wir, und "O mein Bruder" angesprochen wird ® richtet sich an diejenigen, die zu poetischem Miterleben fähig sind
Inhalt und Besonderheiten
Allgemein:
- Angabe der Richtung durch den Titel ® Zugang von Titel zu Text
® Bewegung von oben nach unten durch "über" und "unter" im Gedicht verstärkt
- Interpretation über das Thema von Verfall und Untergang
® Polarität zwischen "oben" und "unten" in Zeitrahmen gestellt: erzählte Gegenwart einer besseren Vergangenheit und Möglichkeit zur Restaurierung in einer erlösten Zukunft entgegengestellt
- explizites Zeitelement: Anbruch des "Abends" bis zur "Nacht", bzw. "Mitternacht
1. Terzett:
- Andeutung eines Übergangs im "Abend" (® sich neigender Tag) auch in den Anfangszeilen: Jahreszeit des natürlichen Verfalls (Herbst) durch abziehende wilde Vögel gezeigt
- kalter winterlicher Eindruck des zugefrorenen "weißen Weihers" in der ersten Strophe klanglich akzentuiert durch "ein eisiger Wind"
® Strophe stellt zeitlichen Hintergrund der darauffolgenden Bilder auf
- "sind fortgezogen": einziges Vergangenheitsverb
® macht auf die zwei Zeitrahmen aufmerksam: gegenwärtiges Panorama des betrachtenden lyrischen Ichs und die vorangegangene Zeit der dahinziehenden Vögel
® trotz dem Verbtempus (weist auf Vergangenes hin): Strophe mit Bild vom jetzigen Weiher
- Leser nimmt nur wahr, was nach dem Abzug der Vögel zurück bleibt: lebloser kalter und getrübter Weiher, auf den ein kalter Wind herabweht
- "am Abend weht von unseren Sternen ein eisiger Wind": lyrisches Ich löst sich von der objektiven Beschreibung los und erzählt von einer unheimlichen Entfremdung von ihrem ("unserem") Ursprung
è Flug der Vögel, schwache Spiegelungen der Weiher-Oberfläche, Flimmern der fernen Sterne: Erinnerungen an eine hellere, glücklichere Vergangenheit
2. Terzett:
- Untergangsprozess in der zweiten Strophe fortgesetzt
- in Form eines entstellten menschlichen Gesichts: "die zerbrochene Stirne der Nacht", die sich "über unsere Gräber" beugt: deutet Schlusspunkt des Untergangsprozesses hin
- Vorkommen von "unser" in zwei aufeinanderfolgenden Zeilen zweier Strophen: thematische Brücke, die unsere Sterne mit unseren Gräbern, unserem Schicksal, in Bezug bringt
- horizontales Grab überschneidet sich mit der vertikalen Richtung der einwirkenden Kräfte von oben
® implizierte Horizontalfläche wiederholt sich im Bild des schaukelnden Bootes mit mehr Betonung
- Oberfläche des Wassers unerwähnt, verbindet sich aber mit der horizontalen Oberfläche des "weißen Weihers" aufgrund der klanglichen Eigenschaften: helles metallisches Weiß des silbernen Kahns unter Eichen
- im Gegensatz zu vorangegangenen "zerbrochene Stirne der Nacht": nichts Unheimliches an einem Kahn, der unter Eichen auf einem Weiher schaukelt
® sanftes Wiegen als Anspielung auf mütterliche Geborgenheit: untergräbt das "auf" einem Kahn , das im Gegensatz zu "in" einem Kahn nicht Geborgenheit, sondern Ausgesetztsein aufweist
® einziger Schutz vor dem Untergang nur vereinzelte Eichbäume
- normalerweise: Eichen als Möglichkeit einer behüteten Sicherheit, aber in einer fahlen Winterlandschaft: entlaubte Eichen mit unheimlichen Schatten über einem Boot auf einem Weiher
® negative Eigenschaft der Eichen verstärkt durch schaurige ei-Laute, die hier nachhallen
- Effekt allerdings durch freundlichen Rhythmus der Zeile gedämpft: erste Hälfte simuliert das einfache Schaukeln mit ausgewogenen Trochäen, zweite Hälfte: Daktylen schaffen beruhigenden Rhythmus, der mit Kahn ausklingt
3. Terzett:
- "immer klingen die weißen Mauern der Stadt"; bildhaftester Satz des ganzen Gedichts
- "immer klingen": schneidet in die Stille der Traumlandschaft, unterdrückt positive Gefühlsverbindungen zur Vergangenheit durch das Immerklingen einer zivilisierten Gegenwart
® Stillstand innerhalb einer Stadt, deren Mauern ewig präsent sind
- "unter Dornenbogen" / "O mein Bruder klimmen wir blinde Zeiger gen Mitternacht": lyrisches Ich und brüderliches Gegenüber zu wegweisenden Gesten verwandelt, die die im Gedicht auftretende Abwärtsbewegung kontrastiert
® lyrisches Ich verliert Rolle als passiver Beobachter und wird zur aktiven Kraft, die ihr Sehvermögen verliert, was für Trakl in der aufgeklärten Welt der Massenkultur verlorengegangen ist
- Zeiger auch Wegweiser, der die Klangspur der ei-Laute umkehrt
® kollidierend mit Schlusspunkt erscheinen "weiße Mauern" der Stadt als Gegenpol zum "weißen Weiher"
® typisch expressionistische Nebeneinanderstellung von natürlichen ("weißer Weiher") und fabrizierten ("weiße Mauern") Bereichen, womit Stille des einstmaligen Naturzustandes mit gegenwärtigen Anzeichen der Zivilisation kontrastiert
® zudem: Weiher bezeichnet offenen Raum, der mit vergangenem Zustand assoziiert wird, während Mauern das Eingrenzen des jetzigen Zustands bezeichnen (Resultat eines einschließenden Prozesses)
- Verschmelzen zu "blindem Zeiger gen Mitternacht": mechanisierte Wegweiser, die nicht sehen können, sondern lediglich stumm in die Finsternis hineinzeigen und gestikulieren
è zunehmendes Verdunkeln am Abend bis zum endgültigen Verschwinden des Sehens "gen Mitternacht" veranschaulicht Prozess des Untergangs
è Blindsein um Mitternacht = Ausdruck der verdoppelten Verfinsterung
è In seiner Isolierung will sich das lyrische Ich an einem Freund oder "Bruder" festklammern
è Lyrisches Ich registriert die zivilisierte Entfremdung von einer ursprünglichen natürlichen Welt
Interpretation
- endet zwar mit Geste des Aufstiegs
® Handlung des Gedichtes aber: wie im Titel: Untergang und verfall, die menschlichen Wunsch nach Transzendenz auslösen
- Rilke über Trakls Dichtung: "Spiegelbildwelt", "die ganz im Fallen war"
® in Untergang: Konzentration auf das Hinscheiden der Spiegelbildwelt, die seit der Aufklärung am Verschwinden ist
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