Die Versöhnungsszene erscheint ziemlich bizarr und war zu der Zeit von Kleist wohl noch weitaus schockierender als sie es heute ist. Ich ziehe zur Interpretation einen Satz dieser Szene heran, der mir besonders markant erscheint: \"Die Tochter sprach nicht, er sprach nicht; mit über sie gebeugtem Antlitz sass er, wie über das Mädchen seiner ersten Liebe, und legte ihr den Mund zurecht, und küsste sie.\"(S.44, Z.10-13).
Die Art der Liebe, die der Vater für seine Tochter empfindet, macht beim lesen dieses Satzes besonders stutzig. Es scheint sich nicht um eine Liebe zu handeln, die normalerweise zwischen Vater und Tochter herrscht, sondern vielmehr eine Liebe, wie wir sie unter jungen, zum ersten mal verliebten Menschen erkennen können. Sie ist geprägt durch Leidenschaft, Zuneigung, Vertrauen aber auch durch Erotik. Diese ist in einer Vater - Tochter Beziehung wohl unangebracht, lässt sie doch diese Versöhnungsszene eher wie eine Liebesszene aussehen.
Doch meiner Meinung nach sollte man diesen Abschnitt der Erzählung nicht so wörtlich nehmen wie er dasteht. Die Form eines Berichtes, der vermittelt wird von der Mutter der Marquise, die hier als Augenzeugin auftritt, mindert schon ein wenig die Brisanz. Wenn die Mutter dieses Verhalten nicht als anstössig oder unangebracht empfindet, sondern nur als eine übertriebene Art der Entschuldigung, so können auch wir das tun, denn wer trägt mehr Sorge um ein Mädchen als die eigene Mutter? Am ehesten ist dies der Vater, doch dieser ist so sehr um die Entschuldigung seiner Tochter bemüht, dass er dabei wohl keine Hintergedanken hegt. Vielmehr ist diese heftige Reaktion durchaus verständlich, vergleicht man sie mit der Heftigkeit, mit der die Marquise zuvor vom Vater vertrieben wurde. Jene Szene ist nicht minder übertrieben als die nun darauf folgende Entschuldigung.
Dass der Kommandant jetzt erfahren hat, er wurde von seiner Tochter nicht belogen und betrogen, sondern sie von Anfang an die Wahrheit sagte, stürzt ihn in einen Zustand endloser Reue, in dem er sich hilflos befindet und nicht mehr weiss was er tun soll. Dies ist scheinbar der tiefste Moment seelischer Erschütterung und Bewegtheit in der Ganzen Erzählung. So brutal und gnadenlos er bei der Vertreibung seiner Tochter vorging, so extremer sind jetzt seine Empfindungen bei der Versöhnung. Solch extreme Gefühle müssen auch mit extremen Worten ausgedrückt werden, um ihnen die richtige Tragweite zu verleihen. Wer diese Formulierungen allzu wörtlich nimmt, kann leicht auf eine falsche Spur gelenkt werden. Man erkennt die Intensität der Gefühle auch in der nun herrschenden Verbundenheit von Vater und Tochter. Beide brauchen keine Worte mehr, um den anderen verstehen zu können. Mit den Worten versteht man jeden Menschen, mit dem Herzen aber kann man nur jemanden verstehen mit dem man eng verbunden ist. So haben sich die beiden doch noch gefunden, das Vertrauen, welches anfänglich verloren ging, ist wieder aufgebaut. Durch die Versöhnung der Familie ist der erste Schritt getan zu Versöhnung mit dem Grafen, denn erst jetzt sind sie dazu bereit, den Unbekannten in ihrem Haus zu empfangen. Würde sich der Vater des Kindes als zu verkommen herausstellen, wären die Eltern auch dazu bereit das Kind zu adoptieren. Dies gibt der Marquise den nötigen Rückhalt um das, was sie sich vorgenommen hat, auch wirklich durchzuziehen.
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