Werthers Verhältnis zur Natur ist sehr interessant zu betrachten. Er ist in innigster Weise mit ihr verbunden. In die Natur flüchtet er sich aber nicht nur zu stillem Geniessen, sondern auch, wenn es in ihm gährt. So ist ihm die Natur die stille, vertraute Freundin in Freud und Leid.
Seelig kann sich Werthers Gefühl im Anblick eines Frühlingsmorgens verträumen. Die Natur wandelt sich auch von der Herrlichkeit des erwachenden Frühlings zu der Trostlosigkeit eines alles begrabenden Winters. Einige Beweise, dass die Natur Werthers Verhalten beeinflusst:
So schreibt er: Ueübrigens befinde ich mich hier gar wohl, die Einsamkeit ist meinem Herzen köstlicher Balsam in dieser paradiesischen Gegend, und diese Jahreszeit der Jugend wärmt mit aller Fülle mein oft schauderndes Herz\" Werthers Abkehr von der Gesellschaft bringt ihn zu höchster Erfüllung in der Natur, bei Gott, bei sich.
Der Frühling füllt Werther mit Freude: \"Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den süssen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen geniesse\" , hat er noch Wilhelm am 10. Mai geschrieben. Die Natur bringt ihm Freiheit in höchster subjektiver und emotionaler Steigerung. Dazu kommt die Bekanntschaft mit Lotte: Liebe und Natur in schwärmerischem Gefühlsempfinden.
Am Ende des Sommers scheint uns Werther noch föhlicher. Es nähert sich dem Herbst und dann dem Winter, und die Natur scheint ihm nicht mehr die gleiche zu sein. Am 18. August fragt er sich,warum \"(...) das, was des Menschen Glückseligkeit macht, wieder die Quelle seines Elends\" werde? \"(...) mir untergräbt das Herz die verzehrende Kraft, die in dem All der Natur verborgen liegt (...) Himmel und Erde und ihre webenden Kräfte um mich her: ich sehe nichts als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer.\" Jetzt wird es disharmonisch: nicht mehr das Lebenige der Natur steht für Werther im Vordergrund, sondern das Zerstörende. Natur als Spiegel des Seelenlebens!
Ein Jahr später schreibt er in der gleichen Jahreszeit; \"Wie die Natur sich zum Herbste neigt, wird es Herbst in mir und um mich her. Meine Blätter werden gelb, und schon sind die Blätter der benachbarten Bäume abgefallen\" . Während die Zeit vergeht, wird Werther immer trauriger. Am 3. November hat er geschrieben \"(...) und bin elend (...)\" . \"-0h! wenn da diese herrliche Natur so starr vor mir steht wie ein lackiertes Bildchen und alle die Wonne keinen Tropfen Seligkeit aus meinem Herzen herauf in das Gehirn pumpen kann und der ganze Kerl vor Gottes Angesicht dreht wie ein versiegter Brunnen,(...)\" Man kann die Entwicklung der Hauptperson genau beobachten: Werther nähert sich seinen Tod.
Schliesslich befindet er sich im Winter und ist sehr unglücklich. Werther hat das Leben satt. Die Natur ist genau so, wie Werther:: traurig und verzweifelt. Am 12. Dezember schreibt Werther: \"Wehe, wehe! Und dann schweife ich umher in den furchtbaren nächtlichen Szenen dieser menschenfeindlichen Jahreszeit\" . Diese Abneigung gegenüber der Natur und der Gesellschaft wird Werther einige Tage später zum Selbstmord führen.
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