.1 Hannes Kürmann
Frischs Bestreben war, Biografie nicht auf epischen Grundstrukturen basieren zu lassen. Deswegen spaltete er Kürmanns Ich in zwei Personen auf, um dem Stück seinen epischen Anschein zu nehmen. Hannes Kürmann und sein Gefährte, der Registrator, bilden zusammen das eigentliche Ich. Kürmann vertritt die emotionalen, expressiven Züge seiner selbst. Er weiss nur, was er wissen will, und handelt auf Grund seiner jeweiligen Gefühlslagen. Nicht selten verfällt er der Irrealität. Der Registrator repräsentiert Kürmanns vollständiges Bewusstsein, das vor allem rational und objektiv agiert, und sich ausschliesslich in der Realität bewegt. Zusammen vertreten sie die zwei Grundeinheiten des Menschen: Das emotionale, gefühlsbetonte Denken und die realistische Klarsicht.
Kürmann, dessen Biografie einen ansehnlichen Verlauf beschreibt, ist davon überzeugt, dass sein Lebensweg nicht der einzig mögliche ist. Er sagt: "Ich weigere mich, dass wir allem, was einmal geschehen ist -weil es Geschichte geworden ist und somit unwiderruflich-, einen Sinn unterstellen, der ihm nicht zukommt."[6] Hannes Kürmann glaubt, dass es keine Handlung und keine Unterlassung gibt, die für die Zukunft nicht Varianten zuliesse.
3.2 Der Registrator
Der Spielleiter, genannt Registrator, berät Kürmann während der Neugestaltung seiner Biografie und begleitet ihn. Er übernimmt aber weder eine Lehrfunktion, noch drängt er Kürmann in eine Rolle oder richtet über die fehlgeschlagenen Änderungsversuche. Kürmann ist in seinen Entscheidungen völlig frei und von Seiten des Registrators unbeeinflusst.
Der Spielleiter ist eine Mischung zwischen Regisseur und Verwalter von Kürmanns Lebensdaten, die in einem Dossier aufgelistet sind. Durch seine Neutralität und Sachlichkeit übernimmt er die Funktion des rationalen Beraters. Er unterstützt Kürmann, indem er dessen Verhalten objektiviert.
Der Registrator verfügt über alle Fakten und weiss somit alles, was Kürmann auch von sich selbst wissen müsste. Er ist also gewissermassen ein Teil von Kürmanns Ich, das aus dramaturgischen Gründen als zweite Person dargestellt wird. Folglich vertritt der Registrator keine höhere Instanz, sondern spricht lediglich die nüchternen und unparteiischen Sachverhalte aus, die sich Kürmann selber vor Augen führen könnte. Die Rolle des Spielleiters vertritt aber nicht nur einen Teil Kürmanns, sondern stellt das Theater an sich dar, das gestattet, was die Wirklichkeit verbietet: "zu wiederholen, zu probieren, zu ändern."[7]
3.3 Antoinette
Kürmanns Ehefrau, die emanzipierte und kluge Antoinette, steht mit beiden Beinen im Leben und verkörpert die moderne Powerfrau. Sie wünscht sich, bald eine eigene Galerie zu eröffnen. Antoinette ist aber nicht nur geschäftstüchtig, sondern auch untreu. Während der unglücklichen Ehe mit Kürmann trifft sie sich oft mit ihrem Geliebten namens Egon. Kürmann kommt der Affäre auf die Spur, doch Antoinette führt ihr Verhältnis unbeeindruckt fort. Doch was die Ehe am meisten belastet, ist nicht etwa ihre Untreue, sondern die Tatsache, dass Antoinette mental stärker ist als Kürmann. Die Überlegenheit Antoinettes lässt Kürmann immer wieder daran scheitern, einer Szene Herr zu werden. Erst durch die intensive Unterstützung des Registrators gelingt es ihm, die Dominanz seiner Frau zu überbieten.
Antoinettes Stärke und Konsequenz sind es, die das Theaterstücke überraschend beenden: der Registrator bietet nun ihr an, ihre Biografie zu ändern. Antoinette zögert keine Sekunde, wählt die Szene des ersten Treffens, an der Kürmann sooft gescheitert ist, und verhindert die unglückliche Ehe.
4. Interpretation
4.1 Das Dossier
Die Akte Kürmanns, in der sämtliche Fakten festgehalten sind, wird Dossier genannt. Die Einsicht in das Dokument ist allein dem Registrator vorbehalten. Das Dossier gleicht einem Tagebuch, denn jedes Ereignis in Kürmanns Leben wurde sorgsam eingetragen. Die Aufzeichnung wurden aber weder von ihm selbst verfasst, noch von einer Behörde angelegt. Das Dossier entspricht dem gesamten Erinnerungsvermögen Kürmanns, und beinhaltet somit alle Fakten, die in seinem Bewusstsein existieren müssten. Gleichzeitig dient es dem Registrator als Mittel, sich in Kürmanns Leben zurechtzufinden und den Überblick zu wahren. Das Dossier ist laut Frisch "die Summe dessen, was Geschichte geworden ist."[8]
4.2 Spiel- und Arbeitslicht
Während des Stückes wechselt die Beleuchtung zwischen dem Spiel- und dem Arbeitslicht (Neon-Licht) ab. Dies schafft nicht nur optische Abwechslung, sondern hat auch dramaturgischen Sinn. Das Spiellicht erleuchtet die Bühne immer dann, wenn Kürmann eine Szene spielt und eine neue Variante ausprobiert. Sobald der Registrator unterbricht und das Spiel stoppt, um Kürmann auf einen Fehler oder eine unerlaubte Handlung aufmerksam zu machen, geht das Arbeitslicht an.
Dieser Lichtwechsel soll nicht Fiktion und Realität trennen, sondern zeigt dem Publikum an, wann eine Szene wirklich gespielt oder nur über eine neue Variante diskutiert wird. Die abwechselnde Beleuchtung dient vor allem zur besseren Verständlichkeit des Stückes.
4.3 Das schlechte Klavier
Schon zu Beginn des Stückes erklingen im Nebenzimmer schlecht gespielte Klaviertakte, die immer wieder abbrechen und von Neuem beginnen. Diese schiefen Töne deuten voraus, dass Kürmann sich in der nächsten Szene wiederholt und in seine alten Verhaltensmuster zurückfällt, sprich, dass ihm die Veränderung nicht gelingt. Sie ertönen nämlich immer vor einer Szene, an der Kürmann scheitern wird, und deuten somit das Misslingen der Biografieänderung voraus. Die Takte entsprechen genau der Handlungsweise Kürmanns: Er beginnt eine Szene, um sie wenig später abzubrechen und nochmals von vorne zu beginnen. So erhält das Klavier nicht nur eine dramaturgische, sondern auch eine symbolische Bedeutung.
4.4 Gefangen in der Spieluhr
"Spieluhren faszinieren mich: Figuren, die immer die gleichen Gesten machen, sobald es klimpert, und immer ist es dieselbe Walze, trotzdem ist man gespannt jedesmal."[9]
Mit Antoinettes Bemerkung über die Spieluhr, die in Kürmanns Wohnung steht, ist der Änderungsversuch von Kürmanns Leben zum Scheitern verurteilt. Unbewusst sagt sie, wie Kürmann sich bei seiner Lebensreise verhält: er macht immer dieselben Gesten, sobald es klimpert, dass heisst, sobald die Klaviertakte ertönen. Trotzdem ist das Publikum jedes Mal gespannt, ob ihm die nächste Szene gelingen wird.
Kürmann ist anfangs gefangen in seiner Spieluhr, vermag es nicht, ihr zu entfliehen. Deshalb scheitern auch die Versuche, die Ehe mit Antoinette zu verhindern. Kürmann kann sich, obwohl er es nicht will, nicht von seiner festen Rolle in der Spieluhr lösen.
Erst bei einer nächsten Szene verlangt Kürmann, dass die Spieluhr in seiner Wohnung entfernt wird, worauf sie von einem Bühnenarbeiter weggetragen wird. Endlich scheint der Bann gebrochen, das Gelingen seines Änderungswunsches nicht mehr unmöglich zu sein. Tatsächlich kann Kürmann seine Biografie abändern, er tritt in die Kommunistische Partei ein. Kürmann feiert seinen Erfolg, doch die Neuheit wirkt sich aber kaum auf die Entwicklung seines weiteren Lebens aus. Jedoch sind seine Experimente endlich von Erfolg gekrönt.
4.5 Die hartnäckige Antoinette
Kürmann versagt immerzu darin, die Ehe mit Antoinette zu verhindern. Doch wenn dies sein sehnlichster Wunsch ist, wieso kann er sie nicht aus seinem Leben vertreiben?
Der Registrator liefert eine Teilantwort. Er sagt: "Sie verhalten sich nicht zur Gegenwart, sondern zu ihrer Erinnerung. (...) Sie meinen die Zukunft schon zu kennen durch ihre Erfahrung. Drum wird es jedesmal dieselbe Geschichte."[10]
Die zweite Antwort stützt sich auf Kürmanns Gefühle, auch wenn er diese leugnet. In Wahrheit ist es nicht der vermeintliche Hass, der ihn nicht von seiner Ehefrau wegkommen lässt, sondern die Tatsache, dass er sie noch immer liebt. Trotz seiner Kenntnis über ihre Affären bringt er es nicht über sein Herz, die Scheidung einzureichen, zu sehr hängt er an ihr. Denn wozu wir eine starke Verbindung haben, was uns, in Kürmanns Falle unbewusst, wichtig ist, können wir nicht aus unserem Leben ausschliessen: es bedeutet uns zuviel.
Das ist auch der Grund, weshalb Antoinette die Ehe ohne Fehlschlag verhindern kann: sie liebt Kürmann nicht und hält die Beziehung zu ihm folglich nicht für notwendig. Er bedeutet ihr zu wenig, als dass sie nicht ohne ihn auskäme.
4.6 Schuld ist Gewöhnungssache
Katrin, Kürmanns erste Gattin, begeht während der Ehe Selbstmord. Ein tragisches Ereignis in Kürmanns Leben, für das er zum Teil selbst verantwortlich ist. Er heiratet Katrin, obwohl er weiss, dass die Ehe ein Irrtum ist, und verurteilt sie damit zum Scheitern. Zum zweiten ermuntert er Katrin dazu, sich zu erhängen, weil er ihre Art nicht mehr ertragen kann. Doch bei der Wiederholung seiner Ehe mit Katrin probiert er nicht, sie am Suizid zu hindern. Vernünftig wäre doch, sich von aller Schuld der Vergangenheit reinzuwaschen, um mit weisser Weste und ruhigem Gewissen in die Gegenwart zurückzukehren. Nicht Kürmann, denn er verspürt kein Bedürfnis, das Ereignis ungeschehen zu machen. Er sagt: "Ich habe mich an meine Schuld gewöhnt."[11]
Im Dossier steht, dass er an jenem Tag, an dem Katrin sich erhängt hat, seine Schuld für untragbar hielt. Nun aber, Jahre später, gelangt er zur Einsicht, dass er trotzdem mit seinem Gewissen leben kann. Die Auffassung und Gewichtung von Schuld ist abhängig vom Zeitpunkt, an dem sie gefühlt wird. Nach einiger Zeit gewöhnt man sich an sie; sie wird erträglich.
4.7 Die gedichtete Erinnerung
Da Kürmann es nicht vermag, Antoinette nach dem ersten Zusammentreffen aus seinem Leben zu vertreiben, setzt er das Experiment später an. Er wählt den Morgen nach der ersten gemeinsamen Nacht und hofft, wenigstens hier eine Veränderung zu erzielen. Seine Erinnerung sagt ihm, dass Antoinette am besagten Morgen nicht gehen wollte und Kürmann eine Fahrt aufs Land solange schmackhaft gemachte, bis dieser nachgab.
Doch während der Szene merkt Kürmann, dass seine Erinnerung gedichtet hat. Nicht seine Frau ist schuld an jener Nacht und an der Fahrt aufs Land, er selbst hat alles forciert.
"Ich schlafe nicht mit vielen Männern, aber wenn es dazu kommt, bin ich jedesmal froh, Hannes, genau wie Sie, dass ich nachher wieder mit mir alleine bin."[12] Antoinette hatte nicht vor, länger als nötig bei ihm zu bleiben. Obwohl ihr die Nacht gefallen hat, ist sie froh, wieder ihren eigenen Geschäftlichkeiten nachzugehen.
Kürmann verheddert sich gründlich in seiner eigenen Biografie und stolpert schliesslich über seine Erinnerung, die sich als Hirngespinst entpuppt. Die vermeintlichen Erinnerungen haben ihn zu grundfalschen Ansichten bewegt, weil sie nicht das Abbild der Wahrheit, sondern reine Dichtung sind. Dieser Mechanismus erweist sich für Kürmann als Schutz: er kann die Schuld Antoinette zuschieben und ihr sein misslungenes Leben anlasten; er drückt sich gekonnt vor der Verantwortung für sein eigenes Leben und fühlt sich somit unschuldig; sein Gewissen ist beruhigt. Er muss sich nicht eingestehen, dass er selbst für seine Biografie die Verantwortung trägt, sondern lebt mit den Illusionen, die auf seine falschen Erinnerungen aufgebaut sind.
Gleichzeitig zeigt dies einen markanten Charakterzug Kürmanns auf: Bequemlichkeit. Denn ist es nicht um einiges angenehmer, einem Mitmenschen die Verantwortung für Geschehenes aufzuhalsen, anstatt die unbequeme Aufgabe, für sich selbst gerade zu stehen, zu übernehmen?
4.8 Derselbe Tatbestand
Kürmann entscheidet sich anschliessend, die Ehe mit Antoinette nicht aufzulösen und mit ihr weiterhin sein Leben zu verbringen. Durch die intensive Unterstützung des Registrators gelingt es ihm von Zeit zu Zeit, kleine Veränderungen durchzusetzen. So ohrfeigt er seine Frau nicht, und das Spinett bleibt in der zweiten Fassung unbeschädigt. Er untersteht sich, einen Brief an Antoinette zu öffnen, brüllt diese nicht an und macht ihr, wenn sie von einem Rendezvous mit ihrem Liebhaber zurückkehrt, keine Szene. Kürmann verhält sich einwandfrei. Doch sein untadeliges Benehmen wirkt sich kaum auf die Ehe aus: Antoinette behält ihren Liebhaber, Kürmann ist weiterhin unzufrieden. Nur eines hat sich geändert: Kürmann hat sich nichts vorzuwerfen, er hat sich vorbildlich genommen. Der Registrator sagt: "Insofern hat sich durch ihr einwandfreies Verhalten nichts verändert, aber Sie fühlen sich wohler als in der ersten Fassung: Sie brauchen sich diesmal nicht zu schämen."[13]
Doch diese Tatsache ist für Kürmann nicht entscheidend, denn sie bringt keine augenfällige Veränderung. Wie oben erwähnt, hält er Schuld für Gewöhnungssache, folglich nützt ihm sein einwandfreies Benehmen nichts. Gerade weil der Tatbestand trotz Kürmanns Bemühungen derselbe geblieben ist, sieht er nur einen Ausweg. Erzürnt über sein Unvermögen, sein zweites Leben besser zu nutzen, bring er Antoinette um: Er zielt mit einem Revolver auf sie und schiesst fünf Mal. "Ich wusste plötzlich, wie es weitergeht."[14] lautet sein Motiv.
Nachträglich entscheidet sich Kürmann doch für die erste Biografie, die Ermordung Antoinettes wird nicht im Dossier festgehalten.
4.9 Sieben Jahre
Zum Schluss ändert Antoinette ihre und gleichzeitig Kürmanns Biografie, indem sie das Angebot des Registrators annimmt und in ihr eigenes Leben zurückkehrt. Ohne zu zögern verlässt sie Kürmann schon nach der ersten Nacht und bestreitet ihr Leben alleine, wie sie es vor dem schicksalhaften Treffen getan hat. Für sie bedeutet das Verhindern der Ehe Freiheit und Unabhängigkeit, denn sie wollte Kürmann nie heiraten, verfiel aber dem Charme, mit dem er sie umwarb.
Doch nun bleibt Kürmann nichts anderes übrig, als seine Frau gehen zu lassen. Kurz zuvor noch hat er sich entschieden, sich nicht von Antoinette zu trennen; er hat sich mit seiner Biografie abgefunden, welche die definitive Fassung erreicht hat. Doch Antoinette verlässt nun Kürmann, wirft die vollendete Biografie über den Haufen, und zwingt Kürmann zu einem neuen Lebensverlauf. Die Heirat findet nicht statt, Antoinette verschwindet aus Kürmanns Leben. Sieben Jahre bleiben ihm noch bis zu seinem Tod. Schliesslich ist es auch der Tod, der die Frage nach den Varianten überhaupt aufwirft, denn er beendet den Lauf des Lebens und bestimmt somit auch die entgültige Biografie. Obwohl Kürmann die restliche Zeit ohne Vorschriften verbringen und sein Leben bewusst auf mögliche Versionen untersuchen kann, ist nach sieben Jahre keine andere Variante zugelassen, als der Tod.
Fraglich bleibt, ob Kürmann nach den folgenden sieben Jahren, die unweigerlich ohne Antoinette verlaufen müssen, am Ende zufriedener sein wird, als mit den sieben Jahren der ersten Biografie.
Wenn seine Erinnerung weiter dichtet, er die Verantwortung abschiebt oder seiner Spieluhr verfällt -wohl nicht.
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