Das einzige, was sich über die Jahre nicht änderte, war mein
Blick aus dem Fenster, die Gewohnheit, aufzustehen und hinauszuschauen,
wenn ich mit ihr geschlafen hatte, oder auch nicht, sooft sie
später ihre Migräne vorschützte oder nicht in der richtigen Stimmung
war.
Der alte Herr stand in Lebensgröße auf einem Steinsockel, eine
Hand schützend über die Augen gelegt, als schaute er gegen die
Sonne, während er in der anderen Eispickel und Seil hielt, und
es fehlte nicht viel, und er hätte in sein ehemaliges Schlafzimmer
gesehen.
Später wusste ich nicht mehr, wann ich begonnen hatte, mit ihm
Zwiesprache zu halten, aber ich fand mich stets von neuem flüsternd
am Fenster, als meine Frau anfing, nachts das Licht brennen zu
lassen, und immer öfter nicht ins Bett kam, bevor ich eingeschlafen
war. Seine Anwesenheit wirkte beruhigend auf mich, und meine anfänglichen
Allmachtgefühle, wenn ich ihn wieder und wieder zum Hahnrei gemacht
hatte und geradezu strotzend vor Unsterblichkeit in die Dunkelheit
starrte, wichen einer lange erwarteten Resignation. Der alte Herr
hatte sich aus der Affäre gezogen, bevor von Glück oder Unglück
überhaupt die Rede sein konnte, und nun musste ich an seiner Stelle
alles ausbaden. Welches Verbrechen warf man mir vor?
(Seite 58f)
Wir wunderten uns, wie schnell unser Freund in den folgenden Monaten
in Vergessenheit geriet. Denn wir hätten darauf geschworen, dass
er über Nacht zur Legende würde, und wenn wir manchmal noch über
ein Denkmal für ihn sprachen, war es meistens nicht mehr voll
Spott, sondern am ehesten so, als hätten wir es von vornherein
schon abgeschrieben, und wir wehrten uns auch nicht, als die Verantwortlichen
im
Gemeinderat unsere Vorschläge ablehnten und als Kompromiss in
der Nähe der Unglücksstelle ein Wegkreuz anbringen ließen. Ob
wir es wahrhaben wollten oder nicht, wir waren es leid, uns mit
ihm zu beschäftigen, und als wir eines Tages von seiner Frau eine
Mappe mit Aufzeichnungen in seiner schwer leserlichen Handschrift
anvertraut bekamen, ohne dass wir wussten, warum wir auf einmal
wieder ihre Gnade fanden, hatten wir lange nicht das Bedürfnis,
sie zu entziffern. »Das Zeug kann warten«, sagten wir uns, als
wir einen ersten Blick hineingeworfen hatten. »Alles hat seine
Zeit.« (Seite 148f)
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