Der Reisebericht als Genre hat einen langen, holprigen und nicht selten umstrittenen Entstehungsweg hinter sich. Es dauerte eine lange Zeit, bis die Reiseliteratur in den Gattungskanon von den germanistischen Literaturwissenschaftlern aufgenommen wurde. Dazu hat zweifellos der spezifische Charakter dieser Literatur beigetragen. Einerseits wird ihr bis heute ihre fehlende Objektivität nachgesagt und andererseits, so meinen viele, wurden die Werke fürs breitere Publikum geschrieben, um es einfach nur zu unterhalten. Der suspekte Wahrheitsgehalt, dem man wenig Vertrauen schenken konnte, war eine breit vertretene Meinung, welche sich über die Jahrhunderte gehalten hat. Den Begriff `Reiseliteratur′ zu definieren, erscheint nur im ersten Augenblick problemlos, geht man dabei von einer ,,Sammelbezeichnung für jede Art von literarischer Äußerung, die sich stofflich mit dem Bereich des Reisens befasst (wissenschaftliche, essayistische und fiktionale Behandlung des Themas)" aus. Eine detaillierte Analyse der Gattung wird aber aufgrund genau dieser Definition schwierig, da Reiseliteratur mit den verschiedensten Ursprüngen, Hintergründen und Formen verbunden werden kann. So sind entstanden z.B. die ökonomische Reise, die Bildungsreise, die literarische Reise, die kunstwissenschaftliche und archäologische Reise (vor allem nach Italien), die Bibliothekreise und viele andere. Die Autoren schrieben ihre Erinnerungen, Eindrücke, Gedanken in vielerlei Formen nieder. So gab es die Reiseberichte in Form von Tagebüchern, Briefen, Memoiren und mehr oder weniger ausgebauten Erzählungen.
Die Begegnung mit dem Fremden, dem noch nicht bekannten, dem neuen Menschen, dessen Kultur und der differenten Stadttopographie stellt erhebliche Anforderungen an den Reisenden. Seine früheren Lebenserfahrungen und sein Umgang mit Neuem führen zur Entstehung einer nicht immer authentischen Wiedergabe.
Im 16. Jh. haben die hauptsächlich jungen Adeligen zum Abschluss ihres Studiums eine sogenannte Kavalierstour durch die wichtigsten Länder Europas geführt, was Aufenthalte in renomierten Universitäten und Residenzstädten mit sich brachte. Hierbei sollten sie Sprachen lernen, die Umgangsformen in anderen Ländern und nicht zuletzt persönliche Beziehungen zu den Adelsfamilien der jeweiligen Städte anknüpfen, um sich auf eine Karriere als hoher Beamter oder Diplomat vorzubereiten. Diese Form der Reise als Teil und Abschluß der Ausbildung blieb auch im 19. Jahrhundert üblich - und auch heute noch gilt ein Auslandsstudium als zusätzliche Qualifikation. Ab dem Jahre 1700 fing auch das gehobene Bürgertum Deutschlands solche Reisen zu unternehmen an. Es wollte seine berufliche Ausbildung mit der Veredlung ihres Charakters verbinden. Das Ende eines Zeitalters der Glaubenskriege machte Reisen wieder zu einer weniger bedrohlichen Aktivität. Zumal Verkehrswege nun abgesichert wurden und das Herbergswesen saniert worden war, war Mobilität sogar mit einem gewissen Komfort möglich. Nichtsdestotrotz kostete gerade der Transport an den gewünschten Ort (gerade, wenn viel Komfort erwartet wurde) immer noch Geld und brachte neben Vergnügen und Bildung auch Unannehmlichkeiten mit sich. Der eigentliche Träger dieses `neuen Reisens′ wurde das Bürgertum. Als Beispiel für diesen Wandel möchte ich die Lebensgeschichte von Arthur von Gwinner angeben. Der spätere Bankier, der von 1894 bis 1919 dem Vorstand der Deutschen Bank angehörte - war noch nicht 20 Jahre alt, als er seine erste Reise antrat. Es war im Jahr 1874, und Gwinner war damals Lehrling bei einem Frankfurter Bankhaus, wo er als besonders tüchtig auffiel. Deshalb wurde ihm als besondere Auszeichnung bereits vor dem eigentlichen Abschluß der Lehrzeit ein Gehalt zugesprochen, und er war ein "gemachter Mann". Natürlich wollte Gwinner seinen Erfolg mit Statussymbolen demonstrieren. "Zunächst ließ ich mir einen Frack bauen", berichtet er in seinen Lebenserinnerungen. Auch ein Theaterabonnement konnte er sich jetzt leisten. Die dritte größere Ausgabe betraf eine "kleine Schweizerreise", die er in seinen "kurzen Ferien" unternahm. Sie führte ihn über Zürich auf den Rigi, dann auf der anderen Seite des Zürichsees nach Andermatt, zum Rhonegletscher und zum Brienzer See. Die letzte Station war Interlaken, von wo aus Gwinner noch zu Ausflügen nach Lauterbrunnen und aufs Faulhorn aufbrach.
Die ersten größeren Ausgaben eines ehrgeizigen jungen Geschäftsmanns zu Beginn des Kaiserreichs waren damit ein Frack, ein Theaterabonnement und eine Reise. Eine interessante Auswahl, die seine heutigen Altersgenossen sicherlich so nicht treffen würden. Gwinner ging es ganz offensichtlich nicht darum, mit teurer Kleidung oder einer auffälligen Uhr Reichtum zu demonstrieren; er wollte vielmehr zeigen, daß er nun mit seinem Gehalt Zugang hatte zur bürgerlichen Gesellschaft. Der Frack als das bürgerliche Kleidungsstück schlechthin war unverzichtbar für den Opern- und Theaterbesuch oder für gesellschaftliche Ereignisse wie Diners oder Bälle.
Das Bürgertum setzte gegen die ererbten Privilegien des Adels das Postulat der Leistung. Da Leistung aber auf Erfahrungen und Wissen beruht, war der nächste logische Schritt: die Welt bereisen und einen aufgeklärten Geist schulen und schärfen. Dieser Prozess der Verbürgerlichung der Kavalierstour bedeute zwar eine Verkürzung der Reise und auch eine Einschränkung der Endziele, aber ein Reiseziel blieb unangetastet - Italien. Aufgrund einer Jahrtausend alten Geschichte , allgegenwärtigen antiken Kunst und vor allem kulturellen Tradition blieb diese Land das Hauptziel und stand immer noch im Zentrum des Interessen.
Auch Johann Wolfgang von Goethe kannte diese Tradition und knüpfte in mancherlei Hinsicht an sie an mit der Italienreise, die er zwischen September 1786 und Juni 1788 unternahm. Zugleich wußte er, daß seine Reise dieser Tradition nur sehr bedingt entsprach - immerhin war er bei seinem Aufbruch nicht mehr in der Ausbildung, sondern 37 Jahre alt und bekleidete seit langem verantwortliche Positionen in Weimar. Er war nicht daran interessiert, Beziehungen zu knüpfen, die ihm später in Weimar nützen könnten, und hatte auch keine Mission seines Fürsten. Ihm ging es vielmehr darum, die Landschaft und die Kunstwerke zu betrachten, statt des Ministers Künstler in sich wiederzufinden. Mit dieser Abkehr vom Ziel des zweckgerichteten Erwerbs von Kenntnissen steht die Reise des Dichters am Beginn der Bildungsreise, die aus den Wurzeln der "Grand Tour", also der Kavalierstour, erwachsen war, nun aber eine eigene Richtung einschlug und zur Reiseform des Bürgertums im 19. Jahrhundert wurde. Goethes "Italienische Reise" wurde zum Vorbild und zum seither gültigen Maßstab des Bürgertums.
Auch Goethes Vater, Johann Caspar, hat Italien durchreist und in den wichtigsten Städten halt gemacht. Nachdem er Wien besuchte, begab er sich auf den Weg nach Italien, wo er die nächsten 8 Monate verbringen sollte. Die Beschreibung dieser Reise ist in einem 1000-seitigen Manuskript erschienen und beinhaltet fast alle Leitlinien der "Poetik" von Christoph Gottsched. Dieses Werk ist für den Rationalismus der Aufklärung charakteristisch. Der Beobachter ist distanziert, registriert lediglich nur und lässt sich auf kulturelle Andersartigkeiten nicht ein. Dieses rein von der Vernunft bestimmte Reisen gipfelt in Johann Wilhelm von Archenholtz' "England und Italien". Durch die Publikation und die dadurch entstandenen heftigen Diskussionen wurde die Krise des Interesses der Deutschen an Italien in der zweiten Hälfte des 18. Jh. gezeigt. Er konzentriert sich ausschließlich auf den öffentlichen Bereich, geht nicht chronologisch vor und fällt ein unvorteilhaftes Urteil über Italien, welches er gnadenlos mit dem liberalen, wohlgeordneten England vergleicht. Es bleibt kein Platz übrig für die Kunstschätze und individuellen Reiserlebnisse.
Eine entscheidende Wende zur Aesthetik wurde durch J. W. Goethes Italienreise und sein Werk vorgenommen. Die Forscher beurteilen die Italienreise 1786-88 einstimmig "Sie dokumentiere Goethes Erfahrung der Antiken Kunst, sein Suchen nach Einheit in Natur und Menschenwerk und damit seine klassische Aesthetik. Sie gilt als Zeugnis einer Lebenskrise und zugleich als paradiesisches Interludium zwischen den Jahren der Hingabe im weimarischen Staatsdienst und der Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution (...)" . Der Goethe , der uns in Rom, in Neapel, in Palermo und Venedig begegnet ist ganz das Gegenteil vom großen, ernstem Denker. Es begegnet uns ein Mensch, der von milden Klima und dem leichten Leben verzaubert ist. Ein Aussteiger auf Zeit, der seine Lebensgeister wieder weckt, neue Eindrücke sammelt , sich von einem anderem Land und einer anderen Kultur mitreißen läßt. Ein Künstler, dessen Arbeitsalltag in Weimar so frustrierend ist, daß er die Flucht ergreift und sich einen Jugendtraum erfüllt. In seiner ,,Italienischen Reise\" erfahren wir zwar viel vom Italien seiner Zeit, den Bauwerken, der antiken Kunst, der Kultur. Was aber viel wichtiger ist, wir können durch die Augen und durch die Seele dieses großartigen Beobachters und Erzählers eine andere Welt entdecken, Goethes Welt und wie er die Welt sieht. In Rom angekommen, verändert sich oder besser gesagt, erweitert sich die Herangehensweise an die Kunst. Goethe spricht nun nicht mehr vom großartigen ersten Eindruck, sondern er erwähnt, daß es einer gewissen Vorkenntnis benötige, um den ,,wahren\" Kunstgenuß empfangen zu können. In Rom begegnet Goethe erstmals der \"greifbaren\" Antike. Sein Zugang zu antiker Kunst war durch die Schriften Winckelmanns geprägt. Winckelmann, der als Antiquar nach Rom gekommen war, war durch seine Idealisierung der klassisch-römischen Kultur im Unterschied zur römischen, ein Leitbild für Deutschland geworden. Er machte aus dem damaligen Italien, der Heimat der römischen Zivilisation, ein erschwingliches, lebendiges Griechenland. Durch sein Propagieren und das Schaffen von Hermann Baron von Riedesel wurde das von den deutschen vermiedene Italien und Sizilien wieder interessant. Goethe entwickelte diese idealisierende Kunstanschauung weiter: Er erstrebte mehr als eine bloße Nachahmung antiker Ideale, suchte das Verhältnis von Kunst und Natur neu zu bestimmen. Aussagekräftig sind in diesem Zusammenhang die Beschreibungen seiner Besuche in den (ehem.) farnesianischen Gärten am Palatin, welche er auch in Skizzen festhielt.
Die Bindung, die zwischen ihm und der Stadt entsteht, wächst zu einem solchen Ausmaß, dass der beschriebene Abschiedsschmerz anhand der Worte sichtlich fühlbar wird: ,,In jeder großen Trennung liegt einKeim von Wahnsinn, man muß sich hüten, ihn nachdenklich auszubrüten und zu pflegen.\" Das sind einige der letzten Worte, die sein Leiden charakterisieren, als er Rom verläßt. Was ein wenig pathetisch klingt, Goethe verliert hier nicht sein Leben sondern er verläßt schließlich ,,nur\" eine italienische Stadt, muß in einem größeren Zusammenhang gesehen werden. Allein die Strapazen, diese Reise auf sich zu nehmen, waren ungeheuerlich. An die 60 Tage war der Reisende unterwegs, durch zahlreiche kleine Fürsten- und Herzogtümer und deren Zollbeschränkungen behindert, die Überwindung der Alpen, die Gefahr eines plötzlichen Wetterumschwungs, die Gefahr eines Überfalls durch Wegelagerer- all das waren mögliche Hindernisse auf diesem langen beschwerlichem Weg. Für den heutigen Reisenden sind diese beschwerlichen Umstände wohl kaum nachzuvollziehen. Die Bedeutung, die Goethe dieser Reise zumaß, wird in seinen Abschiedworten deutlich. Es kann ganz offensichtlich von einer Liebesbeziehung Goethes zu diesem Land gesprochen werden- Italien wirkte geistig wie auch körperlich in großem Maße auf seine Verfassung ein. Zur Komplexität des Italienerlebnisses gehört vor allem auch Goethes Studium des Volkslebens. Er veröffentlichte 1789 den Bericht "Das römische Carneval", in dem er die Totalität des Lebens im Treiben der Masken schildert . Damit äußert er heftige Kritik an der bedrohlichen Volksmasse und deutet damit auf das Geschehen in Frankreich hin. Das unmittelbare lyrische Ergebnis der Italienreise sind die "Römischen Elegien". Sie geben lebendiger als der erst nach 30 Jahren entstandene Bericht "Italienische Reise" die Bedeutung des Italienerlebnisses aus Goethes eigener Sicht wieder. Goethe sieht und fühlt anders als in Deutschland. Er hat, so könnte man das sagen, das Sehen und verstehen wieder neu erlernt. Getreu seinen eigenen Worten hat sich der Zweck der Reise erfüllt: ,,Paris sei meine Schule, möge Rom meine Universität sein\"
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