Einen weiteren wichtigen Beitrag zur Genetik leistete Morgan 1910: Er beobachtete Unterschiede in der Vererbung von Merkmalen nach einem Prinzip, das man heute Geschlechtskopplung nennt.
Das Geschlecht wird in der Regel durch ein einziges Chromosomenpaar bestimmt. Anomalien im endokrinen System und andere Störungen können zwar die Ausprägung der sekundären Geschlechtsmerkmale verändern, aber sie führen fast nie zu einem völligen Wechsel des Geschlechts. Frauen besitzen 23 Chromosomenpaare, wobei die Chromosomen jedes Paares sich sehr ähnlich sehen. Männer besitzen 22 Paare solcher gleichartiger Chromosomen; die beiden Chromosomen des 23. Paares sind in Größe und Aufbau sehr unterschiedlich. Die 22 Chromosomenpaare, die bei Männern und Frauen gleich sind, nennt man Autosomen, die beiden restlichen bezeichnet man bei Männern und Frauen als Geschlechtschromosomen. Die beiden gleichartigen Geschlechtschromosomen der Frau sind die X-Chromosomen; eines der männlichen Geschlechtschromosomen ist ebenfalls ein X-Chromosom, aber das andere, das viel kleiner ist, wird Y-Chromosom genannt. Wenn sich die Gameten bilden, erhält jede Eizelle, welche die Frau produziert, ein X-Chromosom, aber die Samenzellen des Mannes können entweder ein X- oder ein Y-Chromosom enthalten. Vereinigt sich nun die Eizelle, die immer ein X-Chromosom besitzt, mit einer Samenzelle, in der sich ebenfalls ein X-Chromosom befindet, entsteht eine Zygote mit zwei X-Chromosomen: Das Kind wird ein Mädchen. Trägt die befruchtende Samenzelle dagegen ein Y-Chromosom, entsteht ein Junge. In abgewandelter Form findet man dieses Prinzip bei vielen Tier- und Pflanzenarten.
Das menschliche Y-Chromosom hat etwa ein Drittel der Länge des X-Chromosoms und scheint, abgesehen von seiner Bedeutung für die Bestimmung des männlichen Geschlechts, genetisch nicht aktiv zu sein. Die meisten Gene des X-Chromosoms haben also auf dem Y-Chromosom kein Gegenstück. Diese Gene, die man als geschlechtsgekoppelt bezeichnet, werden nach einem charakteristischen Prinzip vererbt. Hämophilie (Bluterkrankeit) wird z. B. meist durch ein geschlechtsgekoppeltes rezessives Gen (h) hervorgerufen. Frauen mit dem Genotyp HH oder Hh sind gesund. Nur der Genotyp hh führt zur Krankheit. Männer sind nie heterozygot für dieses Gen, denn sie erben nur eine Kopie davon mit ihrem X-Chromosom. Ein Mann mit H ist gesund; mit h entsteht die Bluterkrankheit. Wenn ein gesunder Mann (H) und eine heterozygote Frau (Hh) Kinder haben, sind die Töchter gesund, aber die Hälfte von ihnen trägt das Gen h: Zwar hat keine von ihnen den Genotyp hh, aber die Hälfte ist heterozygot Hh. Die Söhne erben nur das Gen H oder h; deshalb erkrankt die Hälfte von ihnen an Hämophilie. Unter normalen Umständen gibt also eine weibliche Genüberträgerin die Krankheit an die Hälfte ihrer Söhne weiter, und auch die Hälfte der Töchter erhält das rezessive Gen h, so dass diese wiederum zu Überträgerinnen für die Hämophilie werden. Auch viele andere Störungen, so die Rotgrünblindheit, die erbliche Kurzsichtigkeit, die Nachtblindheit und die Ichthyose (eine Hautkrankheit) sind, wie man heute weiß, geschlechtsgekoppelt.
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