Die auf den September 1920 zu datierenden Fabrikbesetzungen in Norditalien, an der eine halbe Million Menschen teilnehmen, stellen den Höhepunkt der Arbeiterbewegung der italienischen Nachkriegszeit dar. Sie sind die Folge von stetiger Problemaufstauung des italienischen Arbeiterproletariats.
Als Reaktion auf das Abbrechen der Lohnverhandlungen seitens der Unternehmer, und einer von ihnen angekündigten Arbeiteraussperrung, beschließen die Arbeiter für die Nacht vom 31. August auf den 01. September die Besetzung der Fabriken. Dieses geschieht so heimlich, dass nicht einmal die betroffenen Familien etwas davon erfahren.
In der Durchführung bedeutet die Besetzung, dass die Arbeiter am Abend des 31. August die Fabrikhallen nicht verlassen, sondern sie teilweise zu Schlafsälen umwandeln und sich Essen dorthin kommen lassen. An den Toren der Fabriken wird ein Wachdienst eingerichtet, welcher jeden kontrolliert, der das Gelände betreten will. Alle fremden Elemente werden also ferngehalten, um keine Risiken einzugehen.
Die Arbeiter gehen mit einem langen Katalog von Forderungen an die Unternehmer in den Kampf , der sich sowohl aus sozialen als auch aus materiellen Aspekten zusammensetzt. Zunächst fordern sie höhere Löhne und geregelte Arbeitszeiten. Sie wollen die Gewährleistung der Sicherheit am Arbeitsplatz und eine umfassende soziale Absicherung. Doch noch untragbarer für die Unternehmer als diese sind die Ziele, die sich die Arbeiter in Bezug auf das Mitspracherecht und auf ihre zukünftige Verwaltung gesetzt haben, da die Erfüllung dieser Forderungen die Machtverhältnisse zwischen den Klassen ändern würde. Für die Industriearbeiter sind Betriebsräte geplant, denen u.a. Rechte über die Kontrolle der generellen Ausgaben des Betriebes und über die am jeweiligen Können gemessene Arbeitszuteilung vorbehalten sein sollen. Für die Unternehmer würde das parallel zu einer Machtverkleinerung die größtmögliche Belastung bedeuten, weshalb sie sich gegen die Forderungen lange wehren.
Am 16. September trifft Giolitti, der derzeitige Ministerpräsident, in Turin, dem Zentrum der Besetzungen, ein, um eine Lösung des Konflikts zu finden. Er übt Druck auf die Industriellen aus, sagt, dass es nicht mehr zeitgemäß sei zu gestatten, dass unzählige Arbeiter vom guten Willen eines einzelnen abhingen, ohne zu wissen, was in der Fabrik vor sich gehe . Generell tritt der Politiker für die Betriebskontrolle durch die Arbeiter ein, fordert die Arbeitgeber auf, auf Gegenforderungen zu verzichten. Diese jedoch wollen die gewaltsame Entfernung der Arbeiter aus den Fabriken, worauf die Regierung aus technischen wie auch aus juristischen Gründen nicht eingeht. Erst am 19. September einigen sich Gewerkschaft und Unternehmerverband, nachdem sich beide Seiten gegenseitig immer weiter durch Androhungen über Verhandlungsabbruch in die Enge getrieben hatten. Den Arbeitern werden Lohnerhöhungen von 4 Lire pro Tag und eine Verlängerung des Jahresurlaubs auf 6 Tage zugesichert, ein Gesetz über die Mitspracherechte der Arbeiter wird versprochen, jedoch nicht eingehalten. Da keine der beiden Konfliktgegner mit dem Ergebnis völlig zufrieden ist, wird darüber in der Masse abgestimmt. Dabei stimmt der Gesamtverband der Unternehmer mit 21 zu 14 Stimmen zu, 75 Prozent der Arbeiter wählen den Kompromiss.
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