Beim Supergau in Tschernobyl handelt es sich klar um menschliches Versagen: In einem Versuch wollte man testen, was passiert, wenn die Verbindung zum äußersten Stromnetz ausfällt. Eine Kette von Fehlern führt zur bisher größten Katastrophe der Atomenergienutzung: Innerhalb von Sekunden stieg die Reaktorleistung auf das mehr als Hundertfache. Die Reaktion war nicht mehr zu stoppen, die 2m dicke Betonplatte oberhalb des Reaktors wurde in die Luft geschleudert, es gab eine Explosion, der Graphitblock brannte noch tagelang.
Einige Prozent des durch die Explosionen zerrissenen Brennstoffs flogen aus dem Reaktorgebäude und verteilten sich in der Umgebung. Tagelang traten radioaktive Stoffe, v. a. Gase aus dem zerstörten Reaktorblock aus und der Wind verteilte diese auf große Teile Europas. Wo es geregnet hat, fielen sie rasch zur Erde. Die stärkste Verseuchung trat in den umliegenden Teilen von Ukraine, Weißrußland und Rußland auf.
Rund 800.000 Menschen - darunter viele Soldaten - waren an der Beseitigung der Katastrophenfolgen beteiligt. Sie stellten Löschtrupps, beseitigten die Brennstofffragmente und bauten den Sarkophag, die Betonhülle über dem ruinierten Reaktor. Ihre Ausrüstung war äußerst mangelhaft, aber ohne ihren Einsatz wäre alles noch schlimmer geworden. 31 von ihnen starben trotz Behandlung in den ersten Wochen nach der Katastrophe. Mehr als 7000 seither der Strahlung zum Opfer gefallen. Die einstigen Helden (ca. 750.000) der Sowjetunion sind heute, ca. 10 Jahre später, strahlengeschädigt, oftmals dem Alkohol verfallen oder haben bereits Selbstmord begangen. Die Opferbilanz der Tschernobyl-Katastrophe ist grauenvoll: Geschätzte 5.000 bis 10.000 Ukrainer sollen dem Supergau bisher zum Opfer gefallen sein.
135.000 Menschen wurden in den ersten Tagen aus der umliegenden 30 km Zone evakuiert, die bis heute nicht bewohnbar ist. Sie leben heute - ebenso wie die Beteiligten an den Aufräumungsarbeiten - verstreut in den 3 Republiken. Dies macht eine effektive Behandlung ihrer Gesundheitsprobleme äußerst schwierig. Auch außerhalb der geräumten Sperrzone fand man später ebenso gefährlich verseuchte Gebiete. Die Menschen hatten die Todesstrahlung anfänglich ignoriert, viel zu spät machten sich die letzten Einwohner auf den Weg, Hunderte ihrer Nachbarn waren bereits tot, jedes zweite Kind kam verkrüppelt zur Welt. Auch aus diesen Dörfern wurden in den Folgejahren Menschen umgesiedelt. Insgesamt haben mehr als 400.000 Menschen ihre Heimat verloren.
8 Millionen Menschen leben heute noch in mehr oder weniger stark verseuchten Gegenden. Gut 80 km von der Todeszone entfernt, leben nur mehr wenige alte Menschen, die keine Kraft mehr fanden, aus ihrer verstrahlten Heimat wegzuziehen. Der Geigerzähler, der die Strahlendosis mißt, zählt 1,6 Mikro-Sievert - das Gebiet wird noch mindestens 300 Jahre unbewohnbar sein, niemand kann hier je wieder zurückkommen. In anderen Gebieten, wo die Strahlung hoch ist, k man heute noch nur unter Einschränkungen leben: Kein Gemüse aus dem eigenen Garten, keine Pilze, keine Fische, keine frische Milch, Kinder wurden in den Schulen "eingesperrt" - Spielen im Freien war verboten. Kein Wunder, alle Untersuchungen zeigen, daß diese Kinder wirklich nicht gesund sind.
Inzwischen zeigen sich auf typische Folgen der Strahlenbelastung. Und wieder sind es die Kinder, die es am stärksten trifft. Seit 1990 wird vor allem in Weißrußland eine Häufung von Schilddrüsenkrebs bei Kindern festgestellt. Statt durchschnittlich 2 Operationen pro Jahr, waren es im Jahre 1994 bereits 80 Kinder, die operiert werden mußten.
Heute kann man sich dem "Todesreaktor" nur noch im Schutzanzug nähern, den man danach vernichten muß. Mit jedem Schritt, den man sich dem Reaktor nähert, steigert sich die Dosis an radioaktiver Strahlung. Direkt beim Sarkophag beträgt sie 312 Mikro-Sievert, das ist 3.900 mal so hoch, wie die Normalwarte in Westeuropa. Im Inneren des Reaktors befinden sich immer noch 400 kg Plutonium, 4 Millionen Curie höchstradioaktiver Stoffe, die noch über 100.000 Jahre aktiv sein werden. Der 3.000 Tonnen schwere Deckel der Reaktorkammer, der beim Unfall 14 Meilen senkrecht in die Luft geschleudert wurde, liegt schief eingeklemmt in den Stahl- und Betonfragmenten. Vom ersten Tag an war der Mantel undicht, heute ist er schief, löchrig und vom Einsturz bedroht. Jetzt soll der Mantel saniert werden; niemand weiß, wie lange dafür Zeit bleibt. Ein kleines Erdbeben kann genügen, den nächsten GAU auszulösen.
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