Aristoteles unterschied in der Ethik zwischen zwei Tugenden, so gäbe es die moralische Tugend und die Tugend des Denkens. Die moralische Tugendhaftigkeit sei Ausdrucksform des Charakters, die durch Gewohnheiten angelernt werde und den Weg zur Glückseligkeit auf dem Mittelweg, die Extreme meidend, erlange. So sei zum Beispiel der mittlere Weg zwischen Feigheit und Tollkühnheit die Tapferkeit, da diese beide vereint, obwohl sie beide direkt meidet. So ergibt sich hier schon ein erster Unterschied zu Sokrates, der die Auseinandersetzung mit jeglicher Seite forderte, um schließlich Rechenschaft über das eigene Leben ablegen zu können. Außerdem war für Sokrates die Vernunft die Basis der menschlichen Erkenntnisse und nicht die Erfahrung, wie für Aristoteles. Aber erst mit Blick auf die Tugend des Denkens lässt sich ein deutlicher Unterschied zwischen Aristoteles' und Sokrates' Einstellung erkennen: Aristoteles nach, könne die vollkommene Tugend nämlich einzig von einem reifen erwachsenen Mann und nie von einer Frau, einem Kind oder einem Barbaren erlangt werden. Sokrates vertrat jedoch die Position, dass jeder zur Tugend geeignet und zur Erlangung der Weisheit befähigt sei, dass also die Ethik jedes Menschen von Grund aus die gleichen Möglichkeiten habe.
Es lässt sich sagen, dass die grundsätzlich verschiedenen Vorstellungen von Tugend in der Konsequenz für die beiden auch andere Wege zur Glückseligkeit forderten. Während Sokrates die Selbstprüfung und Selbsterkenntnis für unerlässlich für das Erreichen eines vollkommenen und glücklichen Lebens hielt, so sollte nach Aristoteles der ebenere Weg durch die Mitte eingeschlagen werden. Dieser Gegensatz lässt sich durch Aristoteles' Auffassung von Politik erklären, wonach diese nur durch Unterschiede, zum Beispiel arm und reich, funktionieren könne und dass diese Unterschiede aus den Fähigkeiten der Bürger hervorgingen, die entweder zu Höherem oder Niederem berufen seien. Zudem gab es für Aristoteles die Gattung eines unbedeutenden Menschen und das war der Nichtgrieche, Nichtpolit, der Barbar.
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