Nachdem die Spannung (hoffentlich) zur Genüge aufgebaut worden ist, stellt unser Autor nun die alles entkrampfen(wollen)de Frage "um was denn im analytischen Konstrukt eines speziellen strukturell-funktionalen Systems (hier: Gemeinde), in dem Sachen und Sachverhältnissen ein eigener Stellenwert abgesprochen wird, das Objekt der Soziologie, ihr Bild der Realität des gesellschaftlichen Zusammenhanges eben dadurch von vorneherein beschnitten worden ist..." (S.26). Wer jetzt gehofft hat, die Antwort sei entwaffnend einfach und erläutere zugleich den LINDEschen Sachenbegriff, muss sich getäuscht sehen. Sie lautet: beschnitten wurde das Objekt der Soziologie von vorneherein "um den Bereich (und die Kategorie), in dem sich diese Realität konstituiert, reproduziert und in dem sich die historischen Modalitäten ihrer sozial-kulturellen Identität unübersehbar konsolidieren" (S.26). Und das ist nun mal der Bereich der Sachen. Natürlich ist mit dieser abstrakten Antwort auch schon mitgesagt, was Merkmale des Sachbegriffs bei LINDE sind: (1) die Realität (insofern Objekt der Soziologie) konstituiert sich im Bereich der Sachen, (2) die Realität reproduziert sich im Bereich der Sachen und (3) in diesem Bereich der Sachen konsolidieren sich historische Modalitäten ihrer (d.h. der Sachen) sozial-kulturellen Identität.
In dieser Antwort (wie sollte es anders sein!?) manifestiert sich nun auch die Methodologie, der LINDE nachhängt. Es ist dies jedenfalls nicht eine system-funktionale Konzeption, sondern eher eine an WEBER sich abarbeitende handlungstheoretische mit besonderer Hervorhebung der Regelung von Handlungen im Sinne DURKHEIMs (und weniger des WEBERschen "gemeinten Sinnes" von Handlungen).
Der Einfluss des spezifischen Erkenntniszieles der Soziologie auf den weiteren Werdegang dieser Wissenschaft am Beispiel WEBERs wird von LINDE wie folgt kolportiert: die Soziologie ziele gem. WEBER "nicht auf die idiographische Deutung und Erklärung kulturwichtiger Einzelhandlungen, Gebilde oder Persönlichkeiten, sondern sucht ... generelle Regeln des Geschehens. Nicht die deutende Erfassung des im als bedeutend qualifizierten Einzelfall real gemeinten Sinnes ist das Erkenntnisziel der Soziologie, sondern der ,durchschnittlich und annäherungsweise' gemeinte Sinn eines häufig beobachteten Handelns - oder mit WEBERs Formel: ,bei soziologischer Massenbetrachtung'..." (S.43 ff. ). LINDE wirft WEBER eine "dubiose Verengung auf Regelmäßigkeiten innerhalb des sozialen Handelns" (S.44) vor, wobei a) gerade die nicht-sozialen Handlungen à la WEBER interessante Bezüge zur Sachenwelt darstellen (vgl.S.41) und b) der durchschnittlich subjektiv von dem Handelnden gemeinte Sinn (S.51) doch wohl eher vom Interpretationsstandpunkt des beobachtenden Forschers abhänge. Während bei WEBER das soziale Handeln dadurch ausgezeichnet sei, dass der vom Handelnden (ego) gemeinte Sinn sich in seiner Konstitution am Handeln des anderen (alter) orientiere und insoweit verstehbar sei (Methode des Sinnverstehens), fächere sich das nicht-soziale Handeln in weitere drei Untergruppen auf. In der ersten -uns hier interessierenden- Gruppe stünden dabei Handlungen, die sich lediglich am erwarteten Verhalten "sachlicher Objekte" orientierten . Hierzu gehöre z.B. eine Maschine, die insofern verstehbar sei, als sie entweder als Zweck oder als Mittel in den für den Handelnden -oder aber auch für einen Betrachter- verständlichen Handlungsbezug einordenbar sei . Fazit: Gegenstände der Außenwelt gliedern sich also in (a) nicht-verstehbare bzw. sinnlose Naturdinge (im Sinne blosser "Daten") und (b) verstehbare Artefakte (im Sinne von "Mittel und Zwecke" darstellende Dinge) (S.41).
Neben diesem zweckrationalen Handlungskalkül gibt es aber auch die "schlichte Fügung in das Gewohnte" , mit der wir als Handelnde den Alltagsgebrauchsgütern gegenüber treten. "Ihn [den Handelnden -Anm.d.Verf.] interessieren eben nur die für ihn praktisch wichtigen Erwartungen des Verhaltens dieser Artefakte. Nicht anders steht es aber mit sozialen Institutionen..." . Es ist diese potentiell institutionelle Funktion von Sachen, die WEBER in den Vordergrund stellt und er nennt dabei in einem Atemzuge: Trambahn, Lift oder Geld, Gericht, Militär und Medizin als rationaler Kenntnis, Schaffung und Kontrolle zugängliche menschliche Artefakte . Ihr Verhalten wird vom modernen Menschen weniger kalkuliert (im Sinne des Zweck-Mittel-Kalküls) als vielmehr passiv entgegengenommen im Sinne eines "Einverständnishandelns" aufgrund einer "Einverständnisgeltung". Diese Artefakte provozieren eine gewisse Erwartung im Handelnden, sie setzen Zwecke und an diesen orientiert sich der Akteur.
Es ist -gemäss LINDE- genau diese (oben angeführte) Einsicht in die Funktion der Artefakte der späteren verstehens-puristischen Vereinfachung in der Soziologietheorie zum Opfer gefallen. "WEBER hat diese, die komplizierten Regelungsaspekte von Artefakten aufschliessende Einsicht nicht in die Fassung der soziologischen Grundbegriffe in Wirtschaft und Gesellschaft übernommen" (S.50). Im Rahmen dieser Vereinfachung gewannen nämlich letztlich Grundbegriffe wie "soziales Handeln" und "soziale Beziehung" bei WEBER die Oberhand und der für LINDE offensichtlich so wichtige Begriff der "Verhaltensregelung" wurde bestenfalls nur noch als deren Subphänomen abgehandelt.
Theoretische Grundbegriffe des nun in Kap.4 der vorliegenden Schrift entwickelten LINDEschen kognitiven Prgramms sind die "sozialen Beziehungen" einerseits und die "sozialen Verhältnisse" andererseits. Diese Grundbegriffe stellen für unseren Autor ein Werkzeug dar, um die soziologischen Theorien im Hinblick auf das Analyseziel (Sachen) abzuklopfen und auf ihre Eignung (eben jene "Sachverhältnisse" in den Blick zu bekommen) hin zu prüfen.
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