Zwei russische Komponisten waren neben Strawinsky[43] prägend für den Neoklassizismus. Sergej Prokofjew (1891 - 1953) und Dmitrij Schostakowitsch (1906 - 1975). Prokofjew komponierte nach marxistisch-leninistischen Wiederspiegelungstheorie von Wirklichkeit in der Kunst und Musik. Der überkommene Formalismus[44] wird abgelöst vom Streben nach Ausdruck des Gefühls, der mit den Mitteln des Neoklassizismus erreicht wird. In "Peter und der Wolf" wird dies besonders deutlich, da Prokofjew ausdrucksstarke Charaktermotive einarbeitet: für Peter die aufschwingende Streichermelodie mit farbigen Harmoniewechseln oder die weichen Klänge der Klarinette für die Geschmeidigkeit der Katze.
Dimitrij Schostakowitsch machte schon früh als Wunderkind im Klavierspiel und in der Komposition auf sich aufmerksam. 1932 komponierte er die Oper "Lady Macbeth", die ihm viel Kritik, auch von Stalin und anderen Komponisten einbrachte. Daraufhin zog er die gerade vollendete 4. Symphonie[45] vor der Uraufführung zurück
Schostakowitsch komponierte die 4. Symphonie in dem Zeitraum von September 1935 bis Mai 1936. Während der Komposition erschien der "Prawda[46]"-Artikel gegen die Oper "Lady Macbeth". Schostakowitsch lebte in ständiger Angst, so dass diese Symphonie das Spiegelbild seiner psychischen Verfassung darstellt.
Im Herbst begannen in Leningrad schon die Proben, aber es kam zu Auseinandersetzungen zwischen dem Dirigenten Fritz Stiedry[47] und Schostakowitsch. Stiedry sagte zum einen, dass er keinen Zugang zum Werk fände, zum anderen hatte er aber auch Angst vor dem Regime und davor mit Schostakowitsch unmittelbar in Verbindung gebracht zu werden. Schostakowitsch zog seine 4. Symphonie daraufhin zurück.
Erst am 30. Dezember 1961 wurde sie dann in Moskau uraufgeführt. Dazu schrieb Schostakowitsch in dem Jahr 1956 einen Artikel für eine renommierte Zeitschrift: "Misslungen ist mir auch meine 4. Symphonie, die nicht mit Orchester erklang. Dieses Werk ist sehr unvollkommen in der Form, zu lang und, ich möchte
sagen, leidet an "Grandiosomanie". Obwohl mir auch in dieser Partitur dies und jenes gefällt."
Nach der Rückziehung seiner 4. Symphonie wandte er sich erst Monate später wieder der Komposition zu. Es entstand in kürzester Zeit die 5. Symphonie. Der ursprüngliche Titel des Werkes lautete: "praktische Antwort eines russischen Künstlers auf gerechte Kritik". Am 21. Oktober 1937 wird sie im Saal der Leningrader Philharmonie uraufgeführt. Der Saal war überfüllt, Musiker, Schriftsteller, Schauspieler, Künstler und Berühmtheiten jeglicher Art. Die Leute wussten nicht was sie zu erwarten haben. Sensation oder Skandal? Es wurde getratscht und auch Witze gemacht. Viele Zuhörer weinten nach der Uraufführung. Die Symphonie hatte großen Erfolg und ist heute das am meisten
bewunderte Werk Schostakowitschs geblieben. Kein anderes Werk rief so viele Kommentare, Rezensionen und Betrachtungen hervor. Die 5. Symphonie gilt als eine "schöpferische Antwort eines sowjetischen Komponisten auf eine berechtigte Kritik".
Schostakowitsch äußerte sich im Januar 1938 in einer Zeitung zu seinem Werk: "Thema meiner Symphonie ist das Werden der Persönlichkeit. In diesem durchgehend lyrischen Werk will ich den Menschen mit all seinem Erleben aufzeigen. Wenn es mir tatsächlich gelungen ist, in meine Symphonie all das hineinzulegen, was ich nach den kritischen Artikeln in der "Prawda" durchdacht und empfunden habe, kann ich zufrieden sein." In diesem Artikel steht aber nur die halbe Wahrheit - er ist gezwungen, Musik im Sinne des Regimes zu schreiben und dies in einer Zeit, als sein Freund, der Marschall Tuchateschewsky[48], erschossen wurde und nach einer öffentlichen Kritik, die ihn zum Volksfeind abstempelte. Er stand somit im Zwiespalt zwischen Anpassung und Selbstbehauptung und die einzige Möglichkeit, sich aus der Affäre zu ziehen, bestand darin, eine Symphonie mit doppeltem Boden zu schaffen. Die 5. Symphonie bedeutete eine Rückbesinnung auf den moderaten Klassizismus[49] und einen Rückzug in formaler wie tonsprachlicher Hinsicht. Schostakowitsch übernimmt zum ersten Mal einige Themen aus den Werken Beethovens und Tschaikowskys. Die viersätzige Symphonie beginnt mit einem ruhigen Moderato in der Sonatensatzform, der ein kontrapunktisches, scharf akzentuiertes Anfangsmotiv vorweg geschaltet ist.
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