Wie bereits erwähnt hatten die "Elemente" des Euklid für die Geometrie und die Mathematik überhaupt für lange Zeit einen ähnlichen Stellenwert, wie die Bibel für das Christentum. Euklid stellte die Geometrie auf eine Basis von Axiomen, die über 2000 Jahre lang Gültigkeit besaßen. Selbst Kant war der Meinung, daß sie die Wahrheit über die Realität liefern kann. Euklid, der zur Zeit Ptolemäus I. (305-287 v. Chr.) in Alexandria lebte, baute die Geometrie auf einer Vielzahl von Axiomen auf. Die ersten fünf lauten:
1. Durch zwei Punkte verläuft eine eindeutig bestimmte Gerade.
2. Geraden sind beliebig lang.
3. Ein Mittelpunkt und ein Radius definieren einen eindeutig bestimmten Kreis.
4. Alle rechten Winkel sind gleich groß.
5. Wenn eine Gerade auf zwei Geraden fällt und hierdurch die Innenwinkel auf derselben Seite kleiner als zwei rechte Winkel sind, schneiden sich die beiden Geraden, wenn sie unendlich verlängert werden, auf der Seite, auf der die Winkel kleiner als die beiden rechten Winkel sind.
Die ersten vier Axiome sind auf Anhieb verständlich und einfach zu formulieren. Mit dem fünften verhält es sich anders. Es ist umständlich formuliert und nicht ganz so selbstverständlich wie die anderen. Es gibt mehrere äquivalente Formulierungen, wie die folgende, die sich durchgesetzt hat:
In einer Ebene seien eine Gerade L und ein Punkt P nicht auf L gegeben. Dann gibt es genau eine Gerade durch P, die parallel zu L ist.
In dieser Fassung ist es als das Parallelenaxiom bekannt. Diese Formulierung ist einfacher, und hat sich daher durchgesetzt. Die Zweifel an seiner Gültigkeit konnte es aber nicht beseitigen. Um diese zu zerstreuen wurde immer wieder versucht, zu beweisen, daß es von den anderen vier Axiomen abhängig ist, und daher wahr sein muß.
Stellvertretend für viele andere habe möchte ich den Beweisversuch von Posidonius, der im 1. Jahrhundert v. Chr. lebte, als Beispiel anführen, da er der erste war, dem der Beweis "gelang". Der Trick, den er anwendete, war eine von Euklids Definitionen zu ändern. Er war sicher, daß seine Aussage "zwei Geraden sind parallel, wenn sie überall den selben Abstand haben" äquivalent zu Euklids Definition sei, wonach sich parallele Geraden niemals schneiden. Mit seiner Definition hatte er es nicht schwer das Axiom zu beweisen. Doch er hat es sich etwas zu leicht gemacht. Gemäß seiner Intuition änderte er eine von Euklids Definitionen. Denn wie sollen sich zwei Geraden nicht schneiden, wenn sie einander näher kommen? Allerdings übersah er, daß eben das 5. Axiom garantiert, daß parallele Geraden äquidistant sind. Da seine Definition das Parallelenaxiom voraussetzt, kann sie nicht für einen Beweis herangezogen werden.
Der nächste nennenswerte Versuch, das Parallelenaxiom zu beweisen, stammt von Gerolamo Saccheri. Er konstruierte ein Viereck ABCD, das heute nach ihm Saccheri-Viereck benannt ist. Die Winkel in A und B sind rechte Winkel, und es gilt AD = BC. Saccheri betrachtete folgende Möglichkeiten:
1. Die Winkel in C und D sind rechte Winkel.
2. Sie sind beide stumpfe Winkel.
3. Sie sind beide spitze Winkel.
Nach Euklid mußte die 1. Annahme die richtige sein. Er konnte das nicht direkt beweisen, also versucht er einen indirekten Beweis. Es gelang ihm zu zeigen, daß etwas falsches folgt, wenn die Winkel stumpf sein sollten. Falls die Winkel spitz sein sollten, konnte er lediglich zeigen, daß "alle Geraden, die innerhalb eines Winkels durch P laufen eine gegebene Gerade AB nicht scheiden." Für Saccheri war das "unvereinbar mit der Natur der Geraden". Er glaubte hier einen Widerspruch gefunden zu haben. Somit wäre das Parallelenaxiom bewiesen. Diese Art der Argumentation war natürlich nicht zwingend. Saccheris Folgerung widersprach dem 5. Axiom. Da es für den Beweis als unbekannt vorausgesetzt wurde, kann es hier aber keinen Widerspruch geben. Der Beweis ist deshalb unvollständig.
Saccheri war zwar gescheitert, doch immerhin brachte er frischen Wind in die Debatte um das Parallelenaxiom. Führende Mathematiker, wie Gauß, Lobatschewskij, Bolyai, und Riemann nahmen die seine Gedanken auf und untersuchten die beiden Fälle, die Saccheri zu widerlegen versuchte. Sie entdeckten, daß man sehr wohl auf das Parallelenaxiom verzichten könne, und erschufen die nichteuklidische Geometrie, oder besser gesagt die nichteuklidischen Geometrien. Denn es zeigte sich, daß es zwei davon gibt. Sie werden nach ihren Begründern Lobatschewskijsche (=hyperbolische) Geometrie und Riemannsche (= elliptische) Geometrie genannt.
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