Surrealismus (seit 1924)
In den frühen 20er Jahren zersplittert sich die Dada-Bewegung. Einige Künstler suchen die psychoanalytische Erkenntnisse des zu Weltruhm gelangenden Arztes Sigmund Freud über das Unbewusste auf die Kunst anzuwenden. "Kunst ist vielleicht die sichtbarste Wiederkehr des unterdrückten Bewusstseins" (Freud). Während des Schaffensprozesses tritt die sichtbare Wirklichkeit weitgehend vor der ebenso wirklichen ,wenn auch nicht sichtbaren Traumwelt (surréalité) zurück. Die Surrealisten entwickeln Methoden, um den kontrollierenden Verstand auszuschalten und die Erlebnisfähigkeit zu erweitern. Ihre Auffassung von Kunst führt zu einer Wertschätzung der sogenannten naiven Malerei, insbesondere der von Henry Rousseau (1844-1910).
In den Zeichnungen kommt das Seelenleben des Menschen, das Unbewusste, freier als in der Malerei zum Ausdruck. Die "gedankenlosen" Kritzeleien werden schnell zu Papier gebracht, um die Traumvorstellungen nicht durch bewusste Gedankentätigkeit zu durchkreuzen. Diese sogenannte automatische Handschrift berücksichtigt keine kunsthistorischen Regeln.
In den Gemälden hingegen werden Tradition und Umwelt stärker berücksichtigt. Richtungsweisend wirken hier die kurz vor und während des 1.Weltkriegs entstehenden "metaphysischen" Bilder des Italieners de Chirico. Er bevorzugt Platzarchitektur mit starken Schlagschatten und Gegenständen in unterschiedlicher Perspektive. Eine ungewöhnliche und rätselhafte Zusammenstellung von vertrauten und frei erfundenen Gegenständen sowie von puppenähnlich regungslosen Figuren sinnbildlich "die Abwesenheit des Menschen im Menschen" (de Chirico).
Die Surrealisten zeigen die Hinter-
gründigkeit der Dingwelt, indem sie die traditionelle Formensprache bruchstückhaft oder verzerrt übernehmen und in einen ungewohnten Zusammenhang bringen. Sie bilden Einzelheiten teils photogetreu ab, teils formen sie diese seltsam um und fügen sie in einer überraschenden, der sichtbaren Wirklichkeit widersprechenden Weise zusammen. Die Welt der Surrealisten, in der die Grenzen zwischen Mensch, Tier, Pflanze und leblosem Gegenstand aufgehoben sind, übt eine magnetische Wirkung aus.
Es ist ein Protokoll seelischer Empfindungen (Traum, Trance, Meditation). Visionäre Landschaften mit deformierten Menschen und Tieren, Platzarchitektur, Innenräume und nahtlose Verbindungen von Organischem und Anorganischem sind die Themen und Bildgattungen der Surrealisten.
Die Ölmaltechnik wird in geradezu altmeisterlicher Vollendung angewendet. Bleistift und Federzeichnung, Collage sowie Mischtechniken kommen der spontanen Arbeitsweise der Surrealisten entgegen. Um den Zufall zu nutzen und dem Seelischen unmittelbar Ausdruck zu geben, werden neue künstlerische Techniken entwickelt:
Frottage: Durchreibeverfahren, bei dem mit
Farbe oder Blei reliefartige
Oberflächenformen, z.B. von
Blättern, Hölzern oder Münzen, auf
Papier oder Leinwand übertragen
werden.
Fumage (Rauchbild): Die Flamme einer Kerze
streicht am Zeichenblatt
vorbei und markiert weich
fließende Schatten.
Grattage (Kratzbild: Mit einer Klinge werden
übereinanderliegende
Ölfarben angeschabt und
Farbformen freigelegt.
Decalcomanie (Abklatschbild): Man tropft Tusche
auf ein Blatt
Papier und drückt
dann ein anderes
Blatt darauf. Es
können mehrere
Blätter aufgelegt
und abgezogen
werden.
Faltbild: Jemand fängt zu zeichnen an. Die
betreffende Stelle wird dann so
gefaltet, dass der nächste Zeichner
die Zeichnung seines Vorgängers nicht
sieht. Auf diese Weise wird beliebig
fortgefahren.
Schadographie: Phototechnisches Verfahren, bei
dem Gegenstände direkt auf
lichtempfindliches Photopapier
gelegt werden. Die Gegenstände
zeichnen sich mit unscharfen
Umrissen auf dem Photopapier ab.
Materialbild: Reliefartige Oberfläche aus einem
Gemisch aus Sand, Gips, Leim o.
dgl., das pastos aufgetragen und
dann geritzt, geschabt oder
gefärbt wird.
Maler:
Italien: Giorgio de Chirico (1888-1978)
Spanien: Salvador Dali (1904-1989)
Joan Miró (1893-1983)
Belgien: Rene Magritte (1898-1967)
Deutschland: Max Ernst (1891-1976)
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