Was ist eigentlich die Cybergesellschaft? Die Cybergesellschaft ist in jedem Falle die Gesellschaft, die im Cyberspace lebt. Der Begriff Cyberspace hängt irgendwie mit dem Computer zusammen und ist inzwischen in dem unscharfen Konglomerat \"MultiMedia\" untergetaucht. MultiMedia haben Politik und Wirtschaft längst für sich entdeckt und wollen damit die aktuellen Probleme lösen. Mit MultiMedia soll der vielbeschworene Übergang von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft gestaltet werden. Kritiker hingegen sehen strukturelle Massenarbeitslosigkeit, schweigende Mehrheiten etc. bereits als den fall-out der in diesem Zusammenhang gerade explodierenden Informationsbombe. So wurde MultiMedia schnell zum \"Mythos MultiMedia\" und zum Anlaß für euphorisch-utopische Zukunftsvorstellungen einerseits, aber auch zum Auslöser für Angst und Verunsicherung andererseits. Die Informationsgesellschaft ist irgendeine Art von Cybergesellschaft. Unklar ist allerdings, wie ihr Cyberspace aussehen soll. Die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes, wie er in William Gibsons Roman »The Neuromancer« vor über zehn Jahren eingeführt wurde, ist reichlich unscharf geworden. Hinzu kommt, daß man inzwischen mehrere Arten von Lebensraümen als Cyberspace erkannt hat - und zwar ganz ohne Computer. In welchem Cyberspace die Cybergesellschaft leben soll, muß also erst noch herausgefunden werden.
Der ursprüngliche Cyberspace ist eine virtuelle Realität, die von einem schöpferischen Computer erzeugt wird. Der bekannten, uns umgebenden Realität wird eine »Virtual reality« entgegengesetzt, die technisch erzeugt wird und so neue Lebensräume eröffnet. Um diese Lebensräume optimal nutzen zu können, muß nach der orthodoxen KI eine vollständige Einbindung aller Sinnesorgane in diese virtuelle Realität gewährleistet sein. Der gesamte, vom Zentralnervensystem (ZNS) beobachtete Input, muß dann über Mensch-Maschine Schnittstellen laufen und aus der künstlichen Welt stammen.
Diese schöpferischen Maschinen sollten in kürzester Zeit unsere heutigen Computer weit hinter sich lassen. Wenn es auch Fortschritte auf diesem Gebiet gibt, ist die anfängliche Euphorie der starken KI inzwischen eher gedämpft. Bisherige Computer sind noch weit davon entfernt, mit der \"objektiven Realität\" konkurrieren zu können - zumindest was die Einbindung des ZNS betrifft. Sie sind noch weitgehend mit der Desktop-Metapher zu beschreiben: Der Computerbildschirm ist ein Fenster, durch das wir blicken - in eine Welt, die der Computer noch immer nach unseren Programmen erzeugt. Die neuen Maschinen hingegen, die eine wirkliche »Immersive-Virtual Environment« generieren, setzen aber eine neuartige Kommunikation zwischen Computer und Betrachter voraus: Der Benutzer bleibt nicht länger in der Rolle des Betrachters, sondern er wird zum Teilnehmer. Er wird in das neue Universum einbezogen. Er wird zum Teilnehmer in der virtuellen Realität:
»Die Programme werden zunehmend offener sein - ihre Inhalte werden davon abhängen, was die Aktoren selbst im virtuellen Handlungsraum tun. Psychologie und Soziologie werden ein völlig neues Forschungsfeld erhalten. Wir werden den Aufstieg einer \"Cyberspace Ethnomethodologie erleben - die Untersuchung (realen!) menschlichen Verhaltens in virtuellen Räumen«.
Das also sollte der eigentliche Lebensraum der Cybergesellschaft sein. Die aktuelle Entwicklung der letzten Jahre zeigt aber eine Abkehr von diesen Szenarien. Man erkannte, daß der Ansatz der starken KI verkürzt ist. Eine völlige Einbindung des ZNS ist gar nicht nötig, um eine neue \"Ethnomethodologie\" entstehen zu lassen. Dafür genügt es im allgemeinen, die Struktur des zwischenmenschlichen Beziehungsfeldes durch neue Kommunikationsmittel zu ändern. Diese Aufgabe wird momentan dem Internet zugeschrieben. Durch die Änderung der Kommunikationsformen entstehen zur Zeit neue virtuelle Freiraüme, neuartige menschliche Beziehungen und Gemeinschaften, ohne daß \"Ganzfeld-Schnittstellen\" nötig wären. Der Fahrschein in die neue Welt ist aber noch immer mit dem Computer verknüpft und erfordert deswegen noch relativ hohe technische wie interlektuelle Zugangsvoraussetzungen:
»Der Benutzer des Cyberspace beherrscht das (digitale) Alphabet des 21. Jahrhunderts. Menschen, die soziokulturell nicht in der Lage sind, die nötige Technik und das Wissen zu erwerben, wird diese neue Welt verschlossen bleiben. Sie werden zu Analphabeten«.
Die Bedingung für Virtualiät, für e-motions in Echtzeit, ist computer-mediated-communications (CMC), also zweiseitige, interaktive Kommunikation, vermittelt über Maschinen. Tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen werden erwartet, wenn die Mehrzahl der Menschen diese Kommunikationsform benützt. Erst dann könnten neue, virtuelle Welten kulturbestimmend sein. Das ist der Cyberspace, wie er sich gerade entwickelt und in dem die Cybergesellschaft nach Meinung der Internet-Utopisten in Zukunft leben wird.
Es stellt sich die Frage, ob auch dieser Ansatz nicht zu kurz greift. Ist der Aufbruch in die Virtualität, sind die Veränderungen, die durch interaktive Kommunikation erwartet werden, nicht schon durch die inflationäre Vervielfachung der einseitigen Massenkommunikation längst realisiert? Zeigen nicht die Ergebnisse der neueren Kognitionswissenschaften, daß wir ohnehin schon immer in einer selbst konstruierten, virtuellen Wirklichkeit leben? Aus diesen Bereichen ergeben sich heute, wie schon erwähnt, weitere Definitionen von Cyberspace, die nicht (nur) an einen Computer gebunden sind. Deswegen werden zunächst die virtuellen Welten betrachtet, in denen sich die jetzige Gesellschaft schon befindet. Danach kann erst ausgelotet werden, ob der aktuelle Cyberspace durch interaktive Kommunikation noch entscheidend verändert werden kann.
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