Wie nahmen die Gefangenen das furchtbare Dokument auf? Der amerikanische Gerichtspsychologe Gustave M. Gilbert hat die Angeklagten in ihren Zellen beobachtet, mit ihnen gesprochen und ein genaues Tagebuch darüber geführt. Er bittet die Gefangenen, ihre Stellungnahme zu der Anklageschrift mit ein paar Worten an den Rand des Dokuments zu schreiben. Diese Bemerkungen spiegeln nach Ansicht des Psychologen die Charaktere am deutlichsten wider.
Hans Fritzsche: \"Es ist die schrecklichste Anklage aller Zeiten. Nur eines ist noch schrecklicher: die Anklage, die das deutsche Volk gegen den Mißbrauch seines Idealismus erheben wird.\"
Franz v. Papen: \" Die Anklage hat mich entsetzt, und zwar wegen 1. der Unverantwortlichkeit, mit der Deutschland in diesen Krieg und die weltweite Katastrophe geworfen wurde, 2. der Anhäufung von Verbrechen, die einige Angehörige meines Volkes begangen haben. Das letztere ist psychologisch unerklärlich. Ich glaube, daß Heidentum und die Jahre der totalitären Herrschaft die Hauptschuld tragen. Durch beides wurde Hitler im Laufe der Jahre ein pathologischer Lügner.\"
Hjalmar Schacht: \"Ich verstehe überhaupt nicht, warum ich angeklagt bin.\"
Frank: \"Ich erwarte den Prozeß als ein gottgewolltes Weltgericht, das berufen ist, die furchtbare Zeit der Leiden unter Adolf Hitler zu prüfen und zum Abschluß zu bringen.\"
Kaltenbrunner: \" Ich fühle mich nicht schuldig an irgendwelchen Kriegsverbrechen, ich habe nur meine Pflicht als Sicherheitsorgan getan und weigere mich, als Ersatz für Himmler zu dienen.\"
Dönitz: \"Keiner dieser Anklagepunkte betrifft mich letzten Endes. Typischer amerikanischer Humor.\"
Keitel: \"Für einen Soldaten sind Befehle Befehle.\"
Ribbentrop: \" Die Anklage richtet sich gegen die verkehrten Leute.\"
Speer: \"Der Prozess ist notwendig. Es gibt eine gemeinsame Verantwortung für so schreckliche Verbrechen - auch unter einem autoritären System.\"
Heß: \"Ich kann mich nicht erinnern.\"
Göring läßt einen Geistesblitz los: \"Der Sieger wird immer der Richter und der Besiegte stets der Angeklagte sein!\" (9)
Es gab nur einen, der unter der Wucht der Anklageschrift zusammenbrach: Dr. Robert Ley, einst mächtiger Führer der Deutschen Arbeitsfront und als Antisemit höchstens noch von Streicher übertroffen. Ley erhängte sich am 25.10.1945 in seiner Zelle.
Leys Platz auf der Anklagebank war allerdings nicht der einzige, der leer blieb. Zwei weitere Männer blieben dem Gericht fern. Gustav Krupp von Bohlen und Halbach und Martin Bormann. Mit Krupp wollte die Anklagebehörde symbolisch die deutsche Rüstungsindustrie erfassen. Die Anklageschrift warf dem Industriellen vor:\"... daß er die Machtergreifung der Nazi-Verschwörer förderte und ihre Kontrolle über Deutschland stärkte und festigte; er förderte die Vorbereitung für den Krieg. Er nahm teil an den militärischen und wirtschaftlichen Plänen und Vorbereitungen der Nazi-Verschwörer für Angriffskriege; er genehmigte und leitete Kiegsverbrechen und Verbrechen gegen die Humanität, besonders Ausbeutung und Mißbrauch von Menschen für Arbeit in der Führung von Angriffskriegen, und nahm an diesen Verbrechen teil\". (10) Gustav Krupp war jedoch nicht verhandlungsfähig. Anträge der Anklagevertretung, gegen ihn in Abwesenheit zu verhandeln oder an seine Stelle Sohn Alfried zu setzen, wurden von den Richtern abgewiesen. Krupps Platz auf der Anklagebank blieb leer. Leer blieb auch der Platz des Angeklagten Martin Bormann, Hitlers Privatsekretär. Gegen ihn wurde in Abwesenheit verhandelt.
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