2.1. Fremdvölkerstereotype in der griechisch-römischen Tradition
Die alten Griechen kannten eine Vielzahl von fremden Völkern, die ausserhalb ihres eigenen Lebensbereiches angesiedelt waren und deren Lebensgewohnheiten ihnen unverständlich und unerklärlich erschienen. Um sich von ihnen abzuheben, betrachteten sie diese Völker als kulturlos oder gar als nicht-menschlich. Barbaren nannte man zunächst jene, deren Sprache als unartikuliertes Gestammel empfunden wurde. Und da im Prinzip alles Nicht-Griechische als Unkultur empfunden wurde, sprach man den Barbaren das ab, was für das griechische Verständnis kulturspezifisch war: die Gesetze. Diese scheinbare Gesetzlosigkeit begründeten sie mit der den Barbaren eigenen Irrationalität und ordneten diese mehr der animalischen denn der menschlichen Sphäre zu. Der Barbar war somit ein irrationales, wildes, triebhaftes, sprachloses und gesetzloses Wesen mit animalischem Umgang.
Solchen Klischeevorstellungen, oder Fremdvölkerstereotypen, liegt ein Prinzip des Ethnozentrismus zugrunde, der in allen Gesellschaftsformen anzutreffen ist: die in einer sozialen Gruppe, sei es Stamm, Volk oder Kulturkreis, vertretene Weltanschauung, wird zu einem universellen Massstab erhoben, und der Andere wird demgegenüber als minderwertig, bedrohlich oder paradiesisch gewertet.
Der Grieche unterschied zwei Kategorien von Menschen: jenen im Kulturkreis der Hellenen und den kulturlosen Barbaren. Für die Römer war die Übernahme der griechischen Vorstellung anfänglich problematisch, da die Römer gemäss dieser Kategorisierung zu den Barbaren zählen würden. Dieser Makel wurde durch eine Einteilung in drei Kategorien - Griechen, Römer und Barbaren -behoben; und als Rom an Bedeutung gewann und schliesslich an Wichtigkeit die griechische Kultur übertraf, wurde die Zweiteilung der Menschheit analog zur hellenistischen Tradition wieder aufgegriffen. Der barbarus war zum Synonym des Nicht-Römers geworden, der kulturlos war, nur Kauderwelsch sprach und sich primär durch seine Wildheit auszeichnete.
Diese Charakterisierung überdauerte die Verbreitung des Christentums und blieb bis ins Mittelalter bestehen, da die griechisch-römische Tradition auch im Christentum "verpackt" weiterlebte. In dieser Zeit ergänzten sich der religiöse und kulturelle Zentrismus: der Heide und der Wilde wurden, als Nachfahren der Barbaren, der christlichen humanitas und der abendländischen Kultur diametral entgegengesetzt.
Neben den Heiden und Barbaren, die trotz aller Unkultur, immerhin als Menschen galten, kannte die griechisch-römische sowie die mittelalterliche Tradition noch allerlei Völker, von denen man letzteres nicht behauptete: Mundlose, Kopflose, Einäugige, Hundsköpfige und Schattenfüssler, deren einziger Fuss so gross war, dass sie ihn auf dem Rücken liegend als Sonnenschirm benutzen konnten. Diese Kreaturen inspirierten Enzyklopädisten, Kosmografen und Reiseschriftsteller während des ganzen Mittelalters bis in die Neuzeit und halfen nicht gerade, den Klischeevorstellungen Einhalt zu gebieten.
2.2. Der "edle Wilde"
In der griechisch-römischen Tradition wurden aber nicht alle ausserhalb des eigenen Kulturkreises angesiedelten, real existierenden oder fabulösen Völker als wilde, ungesittete Barbaren oder gar als Monster verschrien. Die bei den Barbaren stets festgestellte Gesetzlosigkeit wurde teilweise aber auch als Idealzustand einer "natürlichen" Lebensweise gepriesen werden. So galten die Äthiopier als besonders grosswüchsig und als aussergewöhnlich schöne Menschen. Man nannte sie fromm und gottgefällig, sie erfreuten sich eines besonders langen Lebens, und ihr Glück und ihre Zufriedenheit waren nahezu sprichwörtlich. Agatharchides von Knidos begründete dieses Glück und diese Zufriedenheit so:
"Denn sie besitzen das Lebensnotwendige und streben nicht nach mehr. Jeden einzelnen beunruhigt es aber nicht, wenn ihm das, was er nicht kennt, fehlt, sondern wenn ihm die eilende Begierde die Gelegenheit nimmt zu geniessen, wonach er aus freiem Willen verlangt. Daher wird jener, der alles hat, was er will, nach dem Gesetz der Natur, nicht nach dem Urteil der öffentlichen Meinung glücklich sein."
Auch Cäsar wendet in seinem Werk "De bello gallico" die Primitivität barbarischer Lebensumstände immer wieder ins Positive: Die Einfachheit der Existenzform bei "unzivilisierten" Völkern erweise sich als vorteilhaft zur Ertüchtigung des Körpers; die Kargheit der Natur führe zu engen zwischenmenschlichen Kontakten und fördere damit die Tugend der Gastfreundschaft; das Fehlen von Ackerbau und persönlichem Besitz habe den Wegfall von Neid und Missgunst zur Folge.
Dieses Motiv des "edlen Wilden" zieht sich durch die ganze europäische Geistesgeschichte und kontrastiert mit dem Bild des "Barbaren". Dieses Stereotyp entspringt der Sehnsucht, aus den eigenen, als Gefängnis empfunden Gesellschaftsnormen auszubrechen, und idealisiert den "edlen Wilden" als Symbol für einen unkorrumpierten Urzustand. Beide Stereotype sind aber auf dem Ethnozentrismus aufgebaut und bestehen nebeneinander, ohne dass das Bild des "edlen Wilden" dasjenige des "Barbaren" in Frage stellen würde.
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