- in den letzten Jahren ist in der BRD eine Diskussion über Deutschland als multikulturelle Gesellschaft entfacht
- öffentliche Beachtung erlangte diese Vorstellung 1988, als der damalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler eine "Vision einer multikulturellen Gesellschaft" vorstellte22
- Geißler sieht dabei für Deutschland als Land in der Mitte Europas große Chancen
- statistisch gesehen ist Deutschland längst ein Einwanderungsland
- völlig ernst genommen gehört das Modell einer multikulturellen Gesellschaft - ähnlich wie das Model des Kommunismus - in das Reich attraktiver Utopien23
- denn die multikulturelle Gesellschaft setzt menschliche Eigenschaften voraus, über die nur wenige Individuen verfügen (z.B. Toleranz, Flexibilität Bindungslosigkeit)
6.1 Methodik
- in den einschlägigen Diskursen sind die Begriffe "Multikulturalität", "multikulturelle Gesellschaft" oder "Multikulturalismus" ebenso weit davon entfernt, übereinstimmend definiert zu werden wie der Begriff der Kultur selbst
- Kultur kann als Symbolsystem einer Gesellschaft bezeichnet werden24
- auf gesamtgesellschaftlicher Ebene ist das Symbolsystem in Institutionen kodifiziert
- diese Institutionen beinhalten die grundlegenden Werte und Normen, Verfahrens- und Verhaltensregeln
- diese wiederum sind Teil eines "Wissensvorrates" nach Habermas25, auch melting pot genannt
- unterschiedliche Kulturen bedeuten unterschiedliche Welten, unterschiedliche Strategien der Problemlösung und nicht zuletzt differentielle Chancen des Gelingens von Kommunikation
- so führt der Weg zu einer funktionierenden Kultur zwingend über die Teilung der Wissensvorräte26
- diese Teilung ermöglicht Kommunikation, Verständigung, ein Zusammenleben; denn Kultur gibt Orientierung, Identität; Gemeinsamkeit der Kultur stiftet ein Zusammengehörigkeitsgefühl und kann Sicherheit geben27
- Immigranten bezeichnen die deutsche Nationalkultur mit Elementen wie Musik, Literatur, gestaltende Kunst, Gastronomie oder dem allgemeinen Konsumgüterangebot, auch Arbeit das Sozialsystem wird gestützt
- eine multikulturelle Gesellschaft gestaltet ihr Leben und ihre Lebensvorstellung unter Respektierung der kulturellen Identität fremder Zuwanderer
- also kann man von Multikulturalität generell dann, wenn als soziale Aggregate abgrenzbare Mitglieder einer Gesellschaft sich bei der symbolischen Konstruktion von Realität aus je verschiedenen, einander fremden "Wissensvorräten\" versorgen, wenn sie je eigene Bedeutungswelten teilen28
6.2 Umsetzung
- wie Multikulturalität entsteht lässt sich an zwei klassischen Beispielen zeigen
- kulturell unterschiedliche Gesellschaften haben sich zu einem größeren sozialen System zusammengeschlossen (Bsp.: Schweiz) oder
- fremdkulturelle Einwanderer haben sich auf Dauer nicht an die Kultur des Einwanderungskontextes assimiliert oder es ist nicht zur Bildung eines neuen gemeinsamen melting pots gekommen; Multikulturalität ist somit durch Einwanderung entstanden
- im letzten Fall kann man die Multikulturalität auch als vorübergehendes Stadium einer Entwicklung aufgefasst werden
- Kultur ist somit auf jeden Fall dynamisch29
- konkret für Deutschland hieße dass:
- keinerlei Diskriminierung oder Einschränkung der Entfaltungsmöglichkeiten ethnischer und kultureller Minderheiten durch die Mehrheitskultur
- gegenseitige Akzeptanz und Chancengleichheit
- Spannungen und Konflikte werden durch Dialoge, ständige Kommunikation und in Kooperation gelöst
- in vielen Lebensbereichen passt sich die Minderheit der Mehrheit an; beide geben ihre monokulturelle Ausrichtung auf
- die Minderheitskultur dürfte nicht "germanisiert" werden
- Deutschlands Grenzen wären offen - Zuwanderungskontrolle per Quotenregelung
- die Ängste der Deutschen - natürliche Xenophobie - würden durch einen moralischen Umerziehungsprozess zu einer Art "europäischer Bürger" abgebaut
- das Modell einer multikukturellen Gesellschaft stösst in nahezu allen politischen Lagern und gesellschaftlichen Gruppierungen auf Befürwortung wie Ablehnung
- nach Meinung der Kritiker ist dies ein Sozialexperiment, dass die Toleranzfähigkeit breiter Bevölkerungskreise überfordere1
- die moralischen und ideologischen Vorstellungen der Zugewanderten könnten mit unseren demokratischen Grundwerten kollidieren
- fremdenscheu wurde in allen daraufhin untersuchten Kulturen nachgewiesen
- einer der wortmächtigsten Kritiker des Multikuturalismus, Josef Schmid, meint, eine gesellschaft könne auch nur eine Kultur haben - die Vision sei aus soziologisch-theoretischer Sicht nicht sinnvoll
- demnach ist ein solches Konzept definitionsgemäß nicht durchführbar - eine sogenannte multikulturelle Gesellschaft bestünde aus mehreren verschiedenen Gesellschaften, die auf gleichem Territorium nebeneinander leben
- jede Gesellschaft, die Subkulturen aufweist, könnte sich auf dieser Ebene multikulturell nennen
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