Als Leser werden Sie sich jetzt wahrscheinlich wundern, warum ich plötzlich einen so großen zeitlichen Sprung in die Zukunft mache, und somit 30 Jahre scheinbar völlig kommentarlos vorüberziehen lasse. Tatsache ist jedoch, daß sich in den Jahren zwischen 1930 und 1960 kaum etwas signifikant erwähnenswertes bezüglich der Einstellung der Studenten zur Sexualität getan hat. In vielen Untersuchungen, wie zum Beispiel in der von Bell 1968, Gagnon und Simon 1970 oder Shorter 1975 herrscht Übereinstimmung darüber, daß es in eben diesem oben genannten Zeitraum keine bedeutenden Veränderungen gegeben hat. So ist zum Beispiel die Quote der vorehelichen Geschlechtserfahrungen kaum gestiegen. Diese vorübergehende Konstanz in der Verbreitung des vorehelichen Koitus geht nämlich mit der Zeit des Pettings einher. Petting, "die manuelle oder orale sexuelle Stimulation mit oder ohne Orgasmus" (Clement, 6) entpuppte sich nämlich als die ideale Form geschlechtlicher Betätigung schlechthin. Es stellte sozusagen einen Kompromiß zwischen Jungfräulichkeit und Koitus dar, einen Kompromiß, der vor allem bei Frauen großen Anklang fand. Schließlich waren es ja immer noch die Frauen, denen bei Verlust ihrer Jungfräulichkeit negative Sanktionen drohten. Was geschah also dann nach 1960?
Fakt ist, daß es bis Mitte der 60er Jahre noch keine wirklich empirisch - repräsentativen Forschungen zur Sexualmoral und zum Sexualverhalten gab. Tabus regierten die Öffentlichkeit. Über Sexualität wurde einfach nicht gesprochen. Und wenn doch, dann nur, um auf die verheerenden Folgen von Onanie und Homosexualität aufmerksam zu machen. So wurde ich bezüglich der eben genannten Themen in einem medizinischen Nachschlagewerk aus dem Jahre 1968 eines Besseren belehrt. Unter dem Kapitel Sexuelle Auswege steht hier folgende Erkenntnis:
Die Feststellung, daß...bei [gleichgeschlechtlicher Freundschaft]
gemeinsames Leid als halbes Leid und gemeinsame Freude als
doppelte Freude empfunden wird, bedeutet eine große Gefahr
für die weitere geschlechtliche Entwicklung...[und] kann durch
ungünstige Umwelteinflüsse in falsche Bahnen gelenkt werden
und zur Homosexualität führen...d.h. die Zuneigung zum gleichen
Geschlecht wird als eine Verhaltensstörung aufgefaßt, bei der
psychische Ursachen eine sehr gewichtige Rolle spielen.
(Das große Gesundheitsbuch, 721-22)
Mit guten Tips und Tricks, wie man denn diesem abartigen Phänomen entgegentreten könnte, wird in diesem Ratgeber keinesfalls gespart.
Da man weiß, daß lang anhaltendes Sitzen mit dem dabei erfolgenden
Blutandrang zu den Geschlechtsorganen zu einer Überreizung der
Nerven in Verbindung mit einer Anregung der Phantasie führt, daß
Mangel an körperlicher Betätigung, zu eiweißreiche Nahrung, zu
warme und zu weiche Betten, Alkohol und Nikotin, schlechter Umgang
und schlechte Lektüre die zusätzlichen Ursachen sind, muß zunächst
einmal die Lebensweise des Jugendlichen umgestellt werden. Man
beschränkt das viele Sitzen auf das unbedingt erforderliche Maß und
schafft Ausgleich durch Sport und Wandern, Abhärtung durch Luft,
Kaltwasserbäder, Schlafen auf harter Matratze in gut durchlüftetem
Zimmer, reizarme, aber abwechslungsreiche biologische Kost und
Meidung jeglicher Nervenüberreizung. (Das große Gesundheitsbuch,
723)
Man kann sich deshalb auch sehr gut vorstellen, daß sich Befragungen zum Thema Sexualität zu diesem Zeitpunkt oder gar früher alles andere als leicht gestalteten. Viele der Befragten weigerten sich schon von vornherein, an einer Befragung überhaupt teilzunehmen, da mit den Fragen damalige Tabus verletzt wurden, und was hatte man letztendlich mit dieser Information auch schon gewonnen?
Weiters stellten sich die Befragungen selber oft als nicht wirklich repräsentativ heraus. Angesichts einer solchen Tabuisierung des Sexuellen verwundert es nicht, daß Worte wie Sexualität peinlichst vermieden und statt dessen mit Phrasen wie intime Beziehung substituiert wurden. Wie weit nun alle Befragten dem Wort intime Beziehung die gleiche Bedeutung zumaßen, nämlich mit Koitus assoziierten, ist äußerst fraglich. Aus diesen Gründen bleiben die Ergebnisse dieser Befragungen eher zweifelhaft und wenig repräsentativ.
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