Aus heutiger Sicht erscheinen Strafrecht, Strafverfahren und
Strafvollzug im Mittelalter als unvorstellbar grausam und mitleidslos.
Die mit phantasievollen Qualen verbundenen öffentlich vollstreckten
Hinrichtungen wurden von der Obrigkeit bewußt als Volksfeste inszeniert.
Es gab sogar Städte, die bereit waren, für solche Gelegenheiten zu
bezahlen, um sich eine Hinrichtung zu kaufen.
Wie ist eine solche Einstellung zu erklären?
Mittelalterliches Strafrecht darf nicht mit heutigen Maßstäben gemessen
werden. Heutzutage hat Strafjustiz die Aufgabe, dem Straftäter die
Grundlagen für ein straffreies Leben zu vermitteln, ihn zu
resozialisieren. Strafjustiz im Mittelalter hatte eine gänzlich andere
Funktion. Das gesamte soziale Leben war eingebettet in die göttliche
Ordnung. Straftaten stellten diese in Frage. Gesellschaft und Geschichte
galten als Schauplatz des Kampfes zwischen Gott und Satan. Ein
Straftäter hatte in diesem Kampf die Seite des Bösen eingenommen und
dadurch die göttliche Ordnung verletzt. Im Strafrecht ging es also nicht
um bloße Verfolgung und Ahndung von Rechtsbrüchen, sondern um die
Wiederherstellung der göttlichen Ordnung. Die Bestrafung, ja die
Vernichtung des Übeltäters bedeuteten den Sieg des Guten und waren somit
Aufgabe aller Christen. Im Grunde gab es keine Strafen im heutigen
Sinne. Vielmehr wurde der Delinquent als schädliches Glied der
Gesellschaft herausgestellt, bisweilen auch getötet, um die Gesellschaft
vor ihm zu schützen. Das Individuum spielte dabei überhaupt keine
Rolle, die Gesellschaft stand ganz eindeutig im Vordergrund.
Verbrechen und Strafen
Für Tötungsdelikte wurde stets die Todesstrafe (meist Rädern und
Enthaupten) verhängt. Vieh- und
Getreidediebstahl sowie Diebstahl in Kirchen, Schmieden und Mühlen zog
in der Regel den Tod durch den Strang nach sich. Wegen Münz-,
Urkundenfälschung und Raub Verurteilte wurden ebenfalls hingerichtet.
Sittlichkeitsdelikte wie Vergewaltigung, Homosexualität, Blutschande und
Bigamie strafte man mit Enthauptung, Ehebruch wurde nach Gebieten
unterschiedlich mit Pranger, Gefängnis, Rutenstrafe, aber auch mit dem
Tod geahndet. Für Gotteslästerung, Ketzerei und Hexerei, also
Religionsdelikte, mit denen ursprünglich kirchliche Gerichte befaßt
waren, wurden ab dem 13. Jahrhundert auch weltliche Gerichte zuständig,
da man überzeugt war, daß daraus Schaden für die Gesellschaft erwachsen
könne, indem Gott als Vergeltung das ganze Land mit Plagen überziehe.
Ketzer und Hexen starben den Feuertod. Sie hatte in so abscheulicher
Weise gegen göttliches und menschliches Recht verstoßen, daß sie
gänzlich vom Erdboden vertilgt werden mußten. Staatsverbrechen galten
seit alters her als schwere Verbrechen und wurden daher mit
verschiedenen Todesarten bestraft: Landesverrat mit Erhängen, Ertränken,
Rädern und Vierteilen, Verschwörung und Aufruhr, sogenannte
Majestätsverbrechen, mit Enthauptung.
Neben den Todesstrafen wurden auch Verstümmelungsstrafen wie Blenden,
Handabschlagen, Finger-, Ohren- und Zungeabschneiden verhängt. Im
Spätmittelalter waren sie unter dem Aspekt der Abschreckung
weitverbreitet. Die \"Carolina\" überließ es dem Ermessen des Richters, ob
die Verstümmelung anstelle der Todesstrafe angewandt wurde.
Freiheitsentzug als eigenständige Strafe begann sich erst ab dem 14.
Jahrhundert durchzusetzen; in der Regel wurde sie jedoch - wenn
überhaupt - zum Tode Verurteilten zuteil, die begnadigt worden waren.
Fraglich ist, ob der Delinquent diesen Gnadenakt auch als solchen
empfand, denn die Gefängnisse waren in einem grauenvollen Zustand. Die
Häftlinge, womöglich gefesselt oder in einen Stock gespannt, litten
unsägliche Qualen durch Dunkelheit, Kälte, Hunger, Ungeziefer, so daß
wohl mancher den Tod als Erlösung herbeisehnte.
Nicht nur die vielfältigen Leibesstrafen, sondern auch Schandstrafen,
die für geringfügige Delikte wie Unzucht, Ehebruch, Trunkenheit,
Streitsucht, Fernbleiben vom Gottesdienst verhängt wurden, zeugen vom
Erfindungsreichtum des Menschen, wenn es darum geht, dem \"Laster\" zu
wehren.
Die Schandstrafen gaben arme Sünder dem Gespött und der Schadenfreude
des Volkes preis, also
Verhaltensweisen, die wir heute, zumindest offiziell, moralisch nicht
sehr hoch einschätzen.
Die Strafen wurden auf dem Marktplatz vollstreckt und erfreuten sich
außerordentlicher Beliebtheit, denn hier brauchte das Volk nicht nur
zuschauen wie beim Vollzug der Leibesstrafen, sondern durfte selbst mit
Hand anlegen, etwa beim Drehen des Trillers oder beim Fußkitzeln von
Missetätern, die in den Stock gespannt waren. Auch gab es ja wenig
Gelegenheiten, sich zu vergnügen und zu zerstreuen, und jede Abwechslung
des mühevollen täglichen Einerleis wurde dankbar angenommen.
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