2.1 Problem der Finanzierbarkeit
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Immer öfter ist die Rede von notwendigen Kürzungen sozialer Leistungen. Die kostendämpfenden Maßnahmen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung waren ein erster Schritt im Hinblick auf die Reduzierung sozialer Leistungen. Denn das soziale System ist mittlerweile in der jetzigen Form nicht mehr zu bezahlen.
Bei der Suche nach Gründen weist man oft auf die durch die Angliederung der neuen Bundesländer entstandenen Kosten hin. Dies kann jedoch nur einer der vielen ursächlichen Faktoren sein. Einen starken Einfluß auf die Lage des sozialen Systems hat die Beschäftigungssituation. Die wirtschaftliche Rezession, fehlende Aufträge und ein zurückgehender Konsum zwangen viele Firmen zu Entlassungen. Hohe Lohnkosten hatten zur Folge, daß Firmen ihre Produktion ins Ausland verlagerten oder durch Maschinisierung und Mechanisierung weniger Arbeitskräfte benötigten. Damit gingen Hunderttausende von Arbeitsplätzen verloren, Ersatzarbeitsplätze in anderen Bereichen standen nicht zur Verfügung.
Bei einer großen Bevölkerungsgruppe findet also ein Wechsel statt. Von der Seite derjenigen, die in das soziale System eingezahlt haben, wechselten sie hinüber auf die Seite derjenigen, die an das soziale System Ansprüche stellen und finanzielle Leistungen erwarten. Gleichzeitig stiegen die Ausgaben in den letzten zwanzig Jahren auf unvorhersehbare Weise.
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Um nur einige herausragende Beispiele zu nennen: Es erhöhten sich
die Gesundheitsausgaben um das vierfache, die Renten um das sechsfache, die Ausgaben für Sozialhilfe um das 14fache und die der Arbeitslosenhilfe um das 16fache.
Laut dem Jesuitenpater Hengsbach wächst die Zahl derer -Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Kranke, Wohnungssuchende, alleinerziehende Frauen und kinderreiche Familien -, die vom Wohlstand ausgeschlossen sind, stetig.
Nun ist zu überlegen, wie dieses System zu sanieren ist und ob alle gewährten
Leistungen notwendig und sinnvoll waren oder sind.
2.2 Zur Berechtigung gewährter sozialer Leistungen
Experten fordern, daß alle erbrachten Leistungen des Sozialstaates genau auf
ihre Berechtigung zu überprüfen sind. Und es wird wahrscheinlich jedem klar
sein, daß Änderungen notwendig sind. Jedoch wo und wie sie vorgenommen
werden sollen, darüber streiten sich Politiker und Sachverständige.
In einer Zeit, in der es der Wirtschaft und der Bevölkerung unseres Landes
sehr gut ging, hat man eine Vielzahl sozialer Leistungen gewährt.
Dies ging soweit, daß in manchen Fällen eine vierköpfige Familie, deren
männlicher Haushaltsvorstand erwerbstätig war, kaum mehr zur Verfügung
hatte als eine vergleichbare Familie, die von der Sozialhilfe lebte. Wenn die
erwachsenen Mitglieder dieser Familie sich nun durch Schwarzarbeit noch
etwas hinzu verdienten, dann waren sie besser gestellt als der normal arbei-
tende Steuerzahler.
DIHT-Präsident Stihl weist darauf hin, daß das Nettoeinkommen eines kauf-
männischen Angestellten um das 6fache, die Sozialhilfe aber um das 8fache
gestiegen ist. Sie beträgt 92 % des vorgenannten Nettoeinkommens. Es
sind also Beispiele dafür zu finden, daß es sich in manchen Fällen nicht lohnte
zu arbeiten. Jedoch darf man dies nicht auf \"die Sozialhilfeempfänger\" verall-
gemeinern, und nach dem Grundsatz \"Arbeit und Leistung müssen sich wieder loh-
nen\" zur Kürzung sozialer Leistungen aufzurufen, wird auch keine Lösung sein.
Denn bei der derzeitigen Arbeitsmarktsituation finden ja viele arbeitswillige
Menschen keinen Arbeitsplatz.
Also fordert man Umverteilung statt Sozialabbau, damit, wie Kanzler Kohl
es formuliert, das Geld \"den wirklich Bedürftigen\" zukommt.
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Genau diesen Grundsatz habe Kohl nach Meinung vieler Experten 12 Jahre lang
verletzt. Er habe, so der Vorwurf, mit seiner Steuer- und Sozialpolitik Bevölke-
rungsgruppen bevorteilt, die der Begünstigung nicht bedurften.
So hat er den Einkommenssteuerspitzensatz für Großverdiener gesenkt, die
Sozialhilfe für Bedürftige im Durchschnitt bei 504 DM eingefroren.(Stern 27/
94)
Als weiteres Beispiel für die Begünstigung falscher Einkommensgruppen wird
ein gutverdienender Single angeführt, der beim Erwerb einer Neubauwohnung
durch Einkommensförderung und Schuldzinsabzug bedeutende Steuerbeträge er-
lassen bekommt. Der Industriearbeiter mit 3 Kindern und einem sehr viel nie-
drigeren Einkommen kommt überhaut nicht in den Genuß der staatlichen Ver-
günstigungen, da er sich den Kauf der Wohnung gar nicht leisten kann. Er be-
kommt aber auch keinen Berechtigungsschein für eine Sozialwohnung. Die
Miete auf dem freien Markt kann er jedoch kaum bezahlen.
Daher öffne sich - so lautet der Vorwurf - aufgrund einer verfehlten Sozial-
politik die Schere zwischen denen, die einen hohen Lebensstandard haben
und denen, die am Rande des Existenzminimums leben, immer mehr.
Es ist die Gegenüberstellung Single-Industriearbeiter jedoch ein gutes
Beispiel dafür, wie schwierig die Situation ist. Es gab bis vor kurzem
zu wenig Wohnungen zu mieten. Von Privatleuten erstellte Wohnungen
fehlten ebenso wie Sozialwohnungen. Dem Industriearbeiter hätte der
Berechtigungsschein vielleicht gar nichts genützt, denn es wäre keine
Wohnung dagewesen.
Nun beschloß die Regierung, Anreize zu schaffen, damit Privatleute Geld
in den Wohnungsbau investieren. Man ging davon aus, daß dann ein grös-
seres Angebot an Wohnungen geschaffen würde. Das geschah auch.
Zuerst einmal stiegen jedoch durch die verstärkte Nachfrage die Kosten
für die Erstellung von Neubauten. Inzwischen jedoch ist das Angebot an
Wohnungen größer geworden. Vermieter werden ihre Wohnungen nicht
mehr so leicht zu hohen Mietpreisen los. Die Mietpreise gehen zurück.
So spricht der Landesvorsitzende Hessen des Verbandes Deutscher Makler-
BZ vom 31.1.95 - auch von drastisch zurückgegangenen Mietpreisen.
Es ist folglich gar nicht so einfach zu entscheiden, welche Leistungen
sinnvoll sind oder waren bzw. mühelos eingespart werden können.
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Wenn der Vermieter zuerst einmal bei der Vermietung der erstellten Wohnung
nicht auf seine Kosten kommt, da die Mietpreise sinken, so ist auch dies eine
Form von Umverteilung, wenn auch in bescheidenem Maße.
Und Umverteilung wird ja nun von allen Seiten gefordert.
2.3 Mögliche Änderungsvorschläge
Auch den Politikern ist es klar, daß Änderungen notwendig sind. Experten
rechnen sogar damit, daß 14 Millionen Bundesbürger bis zum Jahr 2000
in Armut leben werden. In einem Land mit relativ gut funktionierender
Wirtschaft wächst die Zahl derjenigen, die vom Wohlstand ausgeschlos-
sen sind, ständig. Mögliche Lösungsvorschläge sind jedoch sehr allge-
mein gehalten. Ob man,wie eine Gruppe um den Jesuitenpater Hengsbach
eine neue Kultur des Teilens fordert, oder wie Kanzler Kohl zum Umdenken
in der Gesellschaft aufruft und eisernes Sparen ansagt - ein klares Konzept
scheint nicht in Sicht.
Lediglich der Vorschlag, das Steuer- und Sozialsystem auf ein sogenanntes
Bürgergeld umzustellen -wer weniger als das Existenzminimum hat, bekommt
einen Zuschuß, wer darüber liegt, muß Steuern zahlen- verspricht Einsparun-
gen bei den Verwaltungskosten. Laut DIHT Präsident Stihl existieren nämlich
über 100 soziale Leistungen, die bei 40 verschiedenen Behördenstellen bear-
beitet werden.
Stihl ist einer der sehr wenigen, die sich um eine klare Aussage bemühen. Nach
seiner Meinung gehören alle sozialen Leistungen auf den Prüfstand, und die
Einschnitte müßten so umfassend sein, daß jeder Bürger in irgendeiner Form
betroffen sein soll. Ferner meint er, daß man das Moment privater Eigenver-
antwortlichkeit stärker in die gesamte Sozialversicherung einbauen müsse.
Ganz klar hält er eine deutliche Differenz zwischen Erwerbstätigen und den
von der Sozialhilfe lebenden Menschen für notwendig. Dazu muß jedoch das
Problem der Massenarbeitslosigkeit gelöst werden.
Er schlägt die Schaffung neuer Arbeitsstellen zu bescheidenen Bedingungen
vor. Die aufgrund der hohen Lohnkosten ins Ausland verlagerten einfachen
Arbeitsplätze sollen wieder eingerichtet und unter Tariflohn bezahlt werden.
Für interessant hält er wegen der Einsparmöglichkeiten bei der Verwaltung
den Vorschlag eines Bürgergeldes. Doch spricht er sich dafür aus, daß man
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weiterhin Eliten brauche, denen materielle Anreize gegeben werden müßten.
Man dürfe mit dem Bürgergeld daher keine zu große Angleichung der Ein-
kommen betreiben.
Es liegt auf der Hand , daß solche Stellungnahmen nicht von einem Ver-
treter der Arbeitnehmerseite, sondern der Seite der Arbeitgeber kommen.
Als Reaktion wurde er von allen Seiten - ob Gewerkschaft oder CDU-
eines \"Anschlages auf den Sozialstaat\" bezichtigt.
Andere detaillierte Vorschläge waren jedoch nicht zu hören, denn Politi-
kern fallen Ausarbeitung und Durchsetzung unpopulärer Entscheidungen
schwer.
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