1 Einleitung
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Wer sich als Philosophierender zu aktuellen Problemen äußert, gerät leicht unter
zweierlei Verdacht. Die einen verdächtigen ihn der Ahnungslosigkeit, denkt er
doch über ein Thema nach, für das es Spezialisten gibt. Und schon am Anfang
der Philosophie wurde Thales verlacht, weil er die Sterne beobachtete und dabei
in den Brunnen fiel. Der Verdacht der Unwissenheit liegt also nahe.
Die anderen aber verdächtigen ihn wegen seiner Unbefangenheit. Sie fürchten
ihn sogar ob seiner Ehrlichkeit, mit der er es wagt, die Probleme an- und auszu-
sprechen.
Beide Verdächtigungen zeigen etwas vom Wesen des Philosophierens und des
Philosophierenden. In der Philosophie gibt es nämlich keine endgültigen Ergeb-
nisse, kein 2 x 2, das gleich 4 ist. Daß aber eingestandenes Nicht-Wissen ein
mehr an Wissen bedeutet, müssen manche erst lernen.
Des weiteren versucht der Philosophierende, ohne Scheuklappen zu denken. Die
Freiheit, die er für sich in Anspruch nimmt, endet nicht bei irgendeiner Autorität
oder der Macht eines einzelnen, einer Partei oder Institution. Er ist im besten
Sinne des Wortes radikal, er geht den Dingen an die Wurzel und auf den Grund.
Beide Aspekte der Philosophie verunsichern, ist doch jeder Mensch froh, wenn
er endlich festen Boden unter den Füßen hat, und sei er auch nur vermeintlich
fest, aber ein Weltbild muß sein.
Gerade beim Thema Tkologie wird man diese Schwierigkeit immer wieder
feststellen. Wer sich beim Umweltschutz engagiert, tut dies mit Leib und Seele,
hat sein ökologisches Weltbild, umgekehrt: Wer die ganze Sache für überflüssig
hält, verdächtigt die anderen der Ideologie. Kommunikationsprobleme sind
deshalb die unausweichlichen Folgen.
Hier hilft nur das Nachdenken über die eigene Position, den eigenen Standort,
und hier kann die Philosophie helfen.
Wichtig ist dabei, daß zuerst einmal die richtigen Fragen gestellt werden, bevor
man Antworten geben kann. Deshalb fragen wir in einem ersten Schritt nach
dem Menschen und seinem Selbstverständnis, das unser Denken bestimmt.
2 Der Mensch
Die Frage nach dem Wesen des Menschen ist nie abgeschlossen, denn der
Mensch besitzt kein universelles, kein endgültig definierbares Wesen. Jeder
Mensch und jede Zeit muß sich neu entscheiden und verantworten. Und jede
Antwort auf die Frage ¯Was ist der Mensch?® ist in sich unstimmig weil ab-
strakt, denn sie scheitert an der konkreten Situation. So ist die Frage ¯Was ist
der Mensch?® eigentlich die Frage ¯Was soll i c h sein als Mensch?® Die
Unbestimmbarkeit des Menschen ist also seine Bestimmung. Deshalb kann jede
Antwort gültig, aber nicht end-gültig sein.
2.1 Der Mensch als Suchender
Schon im 18. Jahrhundert beschreibt Johann Gottfried Herder (1744-1803) den
Menschen als ¯das verwaisteste Kind der Natur® (Herder 1772, 24), er sei der
¯erste Freigelassene der Schöpfung® (Herder 1784, 119). Seine dadurch
bedingte Ortlosigkeit überwindet er durch die Schaffung einer 2. Natur, die er
Kultur nennt. Auch Friedrich Nietzsche (1844-1900) beschreibt die Unsicherheit
des Menschen drastisch: ¯Der Mensch ist kränker, unsicherer [...] als irgendein
Tier sonst®. Er ist das kranke Tier, sein Verstand macht ihn krank. Die Un-
menschlichkeit des Menschen ist die faktische Wirklichkeit. Der Mensch findet
nicht sein Wesen, er treibt sein Unwesen.
In unserem Jahrhundert war es Max Scheler (1874-1928), der mit seiner
berühmten Schrift ¯Die Stellung des Menschen im Kosmos® (1928) die Diskus-
sion weiterführte. Seine Frage lautet: Besteht mehr als ein gradueller Unter-
schied zwischen Mensch und Tier? Besteht ein Wesensunterschied?
Den ersten und entscheidenden Unterschied sieht Scheler in dem, was wir
¯Geist® oder ¯Person¯ nennen, also ¯seine existentielle Entbundenheit vom
Organischen, seine Freiheit®¯ (Scheler 1928, 38). Das Tier ist trieb- und um-
weltgebunden, der Mensch ist ¯umweltfrei®, ¯weltoffen® (Scheler 1928, 38).
Der zweite Unterschied besteht darin, daß der Mensch im Gegensatz zum Tier
Selbstbewußtsein hat; das heißt, daß er seine eigene physiologische und
psychische Beschaffenheit sich selbst gegenständlich machen kann. ¯Das Tier
hört und sieht - aber ohne zu wissen, daß es hört und sieht® (Scheler 1928,
42).
Die Gründe für die Weltoffenheit des Menschen sieht Arnold Gehlen
(1904-1976) in den für den Menschen konstitutiven Mängeln. Es fehlt der
Schutz des Haarkleids, es fehlen die natürlichen Angriffsorgane, es fehlt die
Schärfe der Sinne, und es fehlt an echten Instinkten. Dazu kommt als Nest-
flüchtler seine lange Schutzbedürftigkeit in den Säuglings- und Kinderjahren. Er
spricht deshalb vom ¯Mängelwesen Mensch®.
Entscheidend ist nun, daß diese Mängel den Menschen dazu zwingen, wenn er
überleben will, die Welt so umzugestalten, daß Leben möglich ist. Da der
Mensch nicht auf eine bestimmte Umwelt festgelegt ist, muß er sich seine
Umwelt schaffen, die umgearbeitete Natur heißt Kultur, also z.B. Ackerbau,
Züchtung von Pflanzen und Haustieren, präparierte Nahrung, Behausung.
¯Der Mensch ist, um existenzfähig zu sein, auf Umschaffung und Bewältigung
der Natur hin gebaut und deswegen auch auf die Möglichkeit der Erfahrung der
Welt hin. Er ist handelndes Wesen, weil er unspezialisiert ist und also der
natürlich angepaßten Umwelt entbehrt® (Gehlen 1962, 38).
2.2 Der Mensch als Stellvertreter Gottes
Man muß aber noch weiter zurückgehen, um die heutige Problematik zu ver-
stehen, man muß bei Adam und Eva anfangen. Das Verständnis des Menschen
im Alten Testament hat unseren Kulturkreis geprägt. Von allen geschaffenen
Wesen steht der Mensch gemäß der Genesis an der Spitze einer Pyramide. Der
Mensch ist in der Natur ein ¯Aristokrat® (Fraser-Darling 1968, 9), er allein ist
ausgezeichnet durch eine besondere Beziehung zu seinem Schöpfergott, er ist
sogar der Stellvertreter Gottes auf Erden.
Diese im Judentum konzipierte Vorstellung der Beziehung Natur - Mensch hat
ihre unbestreitbaren Vorzüge: Der Mensch emanzipierte sich von seiner Befan-
genheit in den Naturgewalten und Naturgottheiten. Die Natur wird entsakrali-
siert, ein primitiver Animismus wird überwunden. Der Dichotomie zwischen
Gott und Welt, Himmel und Erde, Leib und Seele entspricht die Dichotomie
Mensch - Natur. Es ist aber auch nur noch ein kleiner Schritt zur bedenkenlosen
Naturbeherrschung und -ausbeutung.
Natürlich wird heute von der Theologie betont, daß der Herrschaftsauftrag des
Menschen, das sog. dominium terrae, im Sinne des Hegens und Pflegens ver-
standen werden muß, denn das ¯Gott sah, daß es gut war® gilt für die belebte
und unbelebte Natur gleichermaßen. Daraus leitet die christliche Theologie eine
Verantwortung des Menschen für die gesamte Natur ab. Aber die Einstellung
eines Franziskus blieb historisch gesehen leider die Ausnahme.
Dieter Birnbacher (1980, 111ff) weist noch auf eine logische Schwierigkeit
dieses Ansatzes hin. Er unterscheidet zwischen einer Verantwortung gegenüber
der Natur und einer Verantwortung in Ansehung der Natur. Aus der Sicht des
biblischen Schöpfungsberichts hat der Mensch eine Verantwortung für die
Natur, weil auch sie von Gott geschaffen ist. Das eigentliche Objekt der Ver-
antwortung ist also Gott und nicht die Natur selbst. Der Mensch steht also in
der Rolle des ¯stewardship®, des ¯Hausvogts®, wie Luther Gen 15, 2 übersetzt.
Eine Pflicht besteht demnach gegenüber dem Auftraggeber, also Gott, und nicht
gegenüber der Sache, also der Natur.
2.3 Der Mensch als Träger von Rechten
Diese biblisch begründete Anthropozentrik blieb über Jahrhunderte relativ
gefahrlos für die Natur (und für den Menschen selbst, wie man hinzufügen
muß). Dies aber allein dadurch, weil die Zahl der Menschen und deren Möglich-
keiten begrenzt blieb.
Im Fortgang der Freiheitsgeschichte des Menschen stoßen wir auf entscheiden-
de Veränderungen im 18. Jahrhundert. Der christliche Schöpfungsglaube hatte
zwar prinzipiell allen Menschen Freiheit und Gleichheit als Kinder Gottes zu-
erkannt, aber die politische Durchsetzung begann erst, bedingt durch die
gesellschaftlichen, politischen und sozialen Revolutionen, im Zeitalter der
Aufklärung. Das Machtvakuum, das durch die Durchsetzung des kopernikani-
schen Weltbildes entstanden war, in dem nicht mehr die Erde der Mittelpunkt
des Universums war, wurde dadurch gefüllt, daß sich jeder einzelne Mensch
als Mittelpunkt eines Universums verstehen konnte.
Die Befreiung des Menschen aus der Vormundschaft der Institutionen, der Mut,
sich seines eigenen Verstandes zu bedienen (Kant), hatte auch eine konse-
quente Abgrenzung zur Natur zur Folge. Indem der Mensch Subjekt wird, wird
alles andere zum Objekt. Nur der Mensch ist das erkennende Wesen (res
cogitans), ihm gegenüber stehen die Dinge, die erkannt werden sollen (res
extensa). Das ¯Cogito ergo sum® eines Ren, Descartes begründet und festigt
denkerisch die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Mensch und
Natur.
Damit ist politisch gesehen der Weg frei für die Proklamation der Menschen-
rechte, die jedem Menschen aufgrund seines Menschseins ohne Ansehung der
Person, Alter, Stand oder Rasse genuine Rechte zuerkennt. Weil der Mensch ein
moralisches Wesen ist, das allein Gut und Böse unterscheiden kann, stehen ihm
Rechte zu. So schreibt z.B. John Passmore: ¯Die Annahme, daß irgend etwas
außer dem Menschen \"Rechte\" besitzen könnte, ist gänzlich unhaltbar® (Pass
more 1974, 229). Eine Begründung sieht er darin, daß Dinge keine Interessen,
Wünsche und Hoffnungen haben können. Der Wert der Dinge besteht rechtlich
gesehen nicht in einem Eigenwert, sondern im Wert, der von einem Menschen
zugesprochen wird, denn sie sind Gegenstand des Interesses eines erkennenden
Menschen.
Man erkennt hierbei sehr gut die anthropozentrische Bestimmtheit dieses Den-
kens.
2.4 Der Mensch als moralisches Wesen
Die Aufklärung hat den Menschen nicht nur als freies Wesen definiert, sondern
auch als ein Wesen, das Verantwortung hat. Frei sein bedeutet ja wählen, was
wir wünschen, was wir tun sollen. Dieser Sollensanspruch muß gefunden,
rational begründet und damit für jeden nachvollziehbar sein.
Das ist nicht so einfach. Ein typischer Fehler, der dabei unterlaufen kann, ist der
sog. ¯naturalistische Fehlschluß®, d.h. man schließt von einer deskriptiven
Prämisse auf ein Pflicht- oder Werturteil. So kann z.B. von einer deskriptiven
Wissenschaft, wie etwa der Medizin oder Tkologie, keine Aussage darüber
gemacht werden, was erhalten werden muß oder nicht. Die Naturwissenschaf-
ten können Folgen beschreiben, etwa daß Zigarettenkonsum schädliche Aus-
wirkungen auf den menschlichen Organismus hat, ob ich aber rauche oder nicht
rauche, ist keine medizinische Entscheidung, da müssen eindeutig außermedizi-
nische Kriterien hinzukommen.
Oder ein Beispiel aus der Tkologie: Hier wird oft vom ¯ökologischen Gleichge-
wicht® gesprochen. Dies klingt für den Laien normativ, denn mit dem Wort
¯Gleichgewicht® verbindet jeder etwas Gutes; ob dies aber der einzig wün-
schenswerte oder gar der optimale Zustand ist, ist mit dieser deskriptiven
Aussage bei genauerem Hinsehen nicht entschieden und kann auch gar nicht
entschieden werden.
Bei der Suche nach Werten, die unser Handeln bestimmen können, kann der
sog. Utilitarismus ein ganzes Stück weiterhelfen. Als teleologische Ethik werden
hierbei Pflichten auf außermoralische Werte zurückbezogen. Ein solcher Wert,
der für Mensch und Natur gleichermaßen Geltung beanspruchen kann, ist nach
Jeremy Bentham, dem Begründer des Utilitarismus, die Leidensfreiheit. Hier
setzt nun auch die Bedeutung der deskriptiven Wissenschaften an: Wenn
Leidensfreiheit als Kriterium genannt wird, dann muß die Wissenschaft sagen,
inwieweit ein Tier unter den Bedingungen, die der Mensch geschaffen hat,
leidet.
Welche Schwierigkeiten sich dabei allerdings auftun, sieht man schon an dem
Urteil des Bundesgerichtshofes in Karlsruhe, der darüber zu entscheiden hatte,
ob das Betreiben von Legehennen-Batterien strafbar sei oder nicht (AZ: 1 StR
159/86). Die befragten Wissenschaftler waren sich uneins, ob durch die Mas-
sentierhaltung den Hennen ein ¯erhebliches Leid® zugefügt werde. Deshalb
endete das Verfahren mit einem Freispruch.
So sehr die moralische Entrüstung bei Tierschützern verständlich ist, sie hilft bei
einer rationalen Argumentation nicht weiter und ersetzt diese nicht. Ein Satz
wie ¯Schmerz ist Schmerz, ob er Menschen oder Tieren zugefügt wird®, ist so
problematisch wie suggestiv.
Umgekehrt wird aber durch ein solches Urteil kein Mensch aus der Verantwor-
tung auch für die Leiden der Natur entlassen. Es stellt sich vielmehr verstärkt
die Frage, ob z.B. Tiere ein Recht darauf haben, von uns vor Leiden bewahrt zu
werden.
Interessant ist in diesem Zusammenhang das Urteil des Amtsgerichts Hamm,
das zwei Sportfischer zu einer Geldbuße von 1200 DM verurteilte, weil das
Gericht es für erwiesen ansah, daß sie etwa zehn Zentnern Fischen ¯lang an-
haltende und erhebliche Leiden® (FAZ 19.4.1988) zugefügt hatten. Zwar
konnten auch hier die Gutachter nicht klären, ob Fische Schmerz empfinden, die
Leidensfähigkeit der Tiere stand aber außer Zweifel.
2.5 Zusammenfassung
Zusammenfassend kann man sagen: Die Frage nach dem Menschen ist die
Frage des Menschen nach sich selbst. Das Mängelwesen Mensch kennt keine
ökologische Nische, es ist extrem unangepaßt. Der Mensch muß sich deshalb
seine Umwelt schaffen. Er ist zur Freiheit verurteilt, wie Jean-Paul Sartre es
ausdrückt.
Das heißt aber nicht, daß der Mensch außerhalb oder gar über der Natur stände.
Das wäre eine Schlußfolgerung, die nicht logisch wäre. Die anthropozentrische
Engführung dieses Ansatzes hat zu jenem Denken geführt, das die Natur als
den Besitz des Menschen ansieht. Die Wechselbeziehungen, die aber eben auch
zwischen Natur und Mensch bestehen, werden dabei sträflich vernachlässigt.
Der Mensch steht der Natur gegenüber, er kann und muß sie zum Gegenstand
seines Denkens und Handelns machen, denn er allein hat die Möglichkeit der
Erfahrung der Welt. Die Ambivalenz dieser Tatsache ist uns heute klar: es ist
seine Chance, aber auch eine Gefahr.
Je größer nämlich seine Möglichkeiten durch Wissenschaft und Technik wer-
den, umso unübersichtlicher werden die Folgen seines Handelns und umso
größer wird seine Verantwortung.
Dies führt heute zu einem neuen Nachdenken über den Menschen und sein
Verhältnis zur Natur.
3 Natur
Zuerst muß man jedoch klären, was man genauer meint, wenn man von ¯Na-
tur® und ¯natürlich® spricht. John Stuart Mill hat in seinem berühmten Essay
¯Natur® (1850-1858) den Begriff ausführlich untersucht. Er findet heraus, daß
¯Natur in der einfachsten Bedeutung des Wortes ein Kollektivname für alle
wirklichen und möglichen Tatsachen, oder, um genauer zu reden, ein Name für
die uns teilweise bekannte, teilweise unbekannte Art und Weise, wie alles
geschieht® (Mill 1874, 11) gebraucht wird. Natur ist somit ¯der Inbegriff der
Kräfte und Eigenschaften aller Dinge® (Mill 1874, 10f.), also z.B. die allgemei-
nen Naturgesetze. Diese Definition erinnert an den griechischen Begriff von
Natur. Auf Griechisch heißt Natur ¯Physis®, das heißt übersetzt: das, was von
sich aus in Erscheinung tritt und wächst.
Umgangssprachlich wird Natur aber noch in einer anderen Weise gebraucht,
z.B. in der Gegenüberstellung von Natur und Kunst, natürlich und künstlich.
Denn nach der ersten Definition wäre auch die Kunst Natur, denn sie folgt
selbstverständlich den Naturgesetzen.
Der Unterschied besteht darin, daß in der zweiten Bedeutung Natur nur das
meint, ¯was ohne die Mitwirkung, d.h. die willentliche und absichtliche Mit
wirkung des Menschen geschieht® (Mill 1874, 13). Auf der einen Seite also ein
¯Machen®, auf der anderen Seite ein ¯Wachsenlassen®.
Diese Unterscheidung ist sehr wichtig, denn mit dem Begriff Natur verbindet
man immer auch moralische Ansprüche. Schon bei den Griechen und Römern
war Natur nämlich auch ein Prüfstein der Moral. ¯Naturam sequi®, der Natur
folgen, lautete der Leitspruch der Epikureer und Stoiker, zwei philosophische
Schulen, die total Entgegengesetztes lehrten, wenngleich beide für sich in
Anspruch nahmen, ihre Lebensregeln entsprächen den Geboten der Natur.
Wenn also heute ¯naturgemäß® als ein starkes moralisches Argument für Quali-
tät gilt, so ist das nichts Neues.
Damit sind wir aber unbemerkt zu einer dritten Bedeutung von Natur gelangt.
Natur kann ein Kriterium für das sein, was wir tun sollen. Natur gibt so die
Regel und den Maßstab ab, für das, was sein sollte.
Wird die Natur aber zum moralischen Maßstab, so ist offenbar die zweite
Bedeutung von Natur gemeint, denn nach der ersten Bedeutung des Wortes
kann der Mensch gar nicht anders, als der Natur, also den Naturgesetzen,
folgen. ¯Naturam sequi® heißt also, ¯sich den spontanen Lauf der Dinge zum
Modell seiner bewußten Handlungen wählen® (Mill 1874, 62).
Schon in der Scholastik unterschied man zwischen der ¯natura naturans® als
die wirkende oder Schöpferkraft und ¯natura naturata® als dem durch diese
Kraft Bewirkten oder Geschaffenen (vgl. Meyer-Abich 1986, 129). ¯Natura
naturans¯ wird hier verstanden als die grundlegende Kraft, die alle Dinge
hervorbringt, sie wirkt in allem, was lebt.
Mill spielt diesen Gedanken durch und kommt zu dem Ergebnis, daß es mora-
lisch nicht zu rechtfertigen ist, die Natur als Vorbild des Handelns zu nehmen.
Denn die Natur kennt kein Mitleid und keine Gerechtigkeit, sie ist rücksichtslos.
Das Ende wäre ein extremer Darwinismus, bei dem nur das Recht des Stärkeren
gilt. Interessant ist aber nun wiederum seine Schlußfolgerung: Die Natur muß
nicht befolgt, die Natur muß überwunden werden. ¯Jede nützliche Handlung®
besteht ¯in einer Verbesserung der Natur® (Mill 1874, 62) - so lautet die Quint
essenz seiner Gedanken.
Diese Haltung Mills - in der Mitte des 19. Jahrhunderts formuliert - hat ihre
extreme Bestätigung erfahren in den modernen Naturwissenschaften. Sie sind
ausgezogen mit dem erklärten Ziel, das Leben des Menschen zu verbessern.
Deshalb ist es notwendig, einen Blick auf das Weltbild der Naturwissenschaften
zu werfen, denn unser heutiges Naturverständnis ist entscheidend davon
geprägt.
3.1 Das mechanistische Weltbild von Natur und Mensch
Die westliche Naturwissenschaft und Technik ist analytisch und atomistisch
ausgerichtet. Sie hat ihre großen Fortschritte dadurch erreicht, daß sie Atome
und Organismen untersuchte, indem sie sie in Einzelteile zerlegte und inter-
pretierte. Schon die Organisation der Naturwissenschaften, ihre Aufgliederung
in immer kleinere Abteilungen, zeigt die atomistische Sicht.
Die großartigen Erfolge, die durch immer weitergehende Spezialisierung erzielt
wurden, dürfen nicht über die Nachteile hinwegtäuschen. So interessant es z.B.
in der Biologie ist, einzelne Pflanzen morphologisch und physiologisch zu
untersuchen, so fatal ist die Wirkung, wenn dies losgelöst gesehen wird vom
ökologischen Zusammenhang.
Eine solche mechanistische und atomistische Naturwissenschaft ist nicht nur
widernatürlich, sie ist auch menschenfeindlich. Dies wird besonders in der
Schulmedizin deutlich, die den Menschen in Einzelteile zerlegt und das kranke
Organ behandelt, anstatt den Menschen als lebendigen Organismus zu ver-
stehen.
Hier wird auch deutlich, daß unsere moderne Einstellung sich letzten Endes
nicht nur gegen die Natur richtet, sondern genauso gegen den Menschen selbst.
Nicht nur die Natur wird instrumentalisiert, der Mensch genauso.
Die Naturwissenschaft ist aber nicht von sich aus atomistisch. Ein Darwin z.B.
hätte seine Erkenntnisse niemals gewinnen können, hätte er atomistisch
gedacht. Deshalb ist unsere Kritik auch nicht als wissenschaftsfeindlich zu
verstehen. Die Naturwissenschaft braucht ein neues wissenschaftliches Welt-
bild, das eine einheitliche Betrachtungsweise möglich macht.
3.2 Das ökologische Weltbild von Natur und Mensch
Diese neue Betrachtungsweise könnte man - wie in der Literatur vielfach vor
geschlagen - ¯ökologisches Weltbild® nennen. Folgende Forderungen muß man
daran stellen:
1. Kein Rückschritt zur Mystifizierung der Natur.
2. Darstellung der gegenseitigen Abhängigkeit alles Lebendigem.
3. Neue Standortbestimmung des Menschen innerhalb der Natur und in
Unterscheidung zur Natur.
4. Verständnis der Natur als gleichberechtigter Partner des Menschen.
5. Alle Lebewesen, ob Mensch, Pflanze oder Tier, haben einen Eigen-
wert und somit das Recht zu existieren und sich zu entwickeln.
ad 5: Gerade am Beispiel der letzten Forderung können wir die Schwierigkeiten
aufzeigen, mit denen ein ökologisches Weltbild zu kämpfen hat.
In der Rechtsprechung gibt es bisher noch keinen Hinweis darauf, daß der Natur
genuine Rechte zuerkannt werden. Die gesamte Gesetzgebung der Bundesre
publik Deutschland ist anthropozentrisch aufgebaut und begründet. So werden
z.B. im õ 1 des Bundesnaturschutzgesetzes folgende Ziele des Naturschutzes
genannt:
¯Natur und Landschaft sind im besiedelten und unbesiedelten Bereich so zu
schützen, zu pflegen und zu entwickeln, daß
1. die Leistungsfähigkeit des Naturhaushalts,
2. die Nutzungsfähigkeit der Naturgüter,
3. die Pflanzen- und Tierwelt sowie
4. die Vielfalt, Eigenart und Schönheit von Natur und Landschaft als
Lebensgrundlagen des Menschen und als Voraussetzung für seine Erho
lung in Natur und Landschaft nachhaltig gesichert sind® (BNatSchG õ 1,
Abs. 1).
Auch bei der Frage, ob der Umweltschutz als Grundrecht im Grundgesetz
verankert werden soll, wird vom Menschen her argumentiert. Die weitestgehen-
de Forderung, den Artikel 2, Abs. 2, der bisher so lautet: ¯Jeder hat das Recht
auf Leben und körperliche Unversehrtheit®, zu ändern in: ¯Jeder hat das Recht
auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die Erhaltung seiner natürlichen
Lebensgrundlagen und den Schutz vor erheblichen Beeinträchtigungen seiner
natürlichen Umwelt® geht nicht von einem Recht der Natur aus, sondern will
das Recht des Menschen erweitern.
Es stellt sich also dringend die Frage, ob der Natur überhaupt Rechte zugespro-
chen werden können.
Unter anthropozentrischem Gesichtspunkt haben wir die Frage nach etwaigen
Rechten der Tiere schon angesprochen und gesehen, daß sie verneint wird. Die
Frage muß jedoch noch genauer untersucht werden.
Wer ein Recht geltend machen kann, hat auf etwas gegenüber irgend jemandem
einen Anspruch, und umgekehrt besteht eine Pflicht gegenüber jemandem. Da
Tiere jedoch keine moralischen Wesen sind, können ihnen auch keine Pflichten
zugesprochen werden, denn sie sind instinktgebunden, sie können keine Ver
sprechen geben, man kann sie auch nicht wegen moralischen Fehlverhaltens
tadeln.
Weiter wird eingewendet, daß die Tiere aufgrund ihres geistigen Unvermögens
nicht in der Lage sind, Rechtsansprüche einzufordern. Ja sie können noch nicht
einmal unterscheiden, ob ihnen rechtswidriges Leid zugefügt wurde oder nicht.
Es ist jedoch die Frage, ob dies ein Grund sein kann, Tieren einen Rechtsan-
spruch zu verwehren. Wenn nämlich die geistigen Fähigkeiten eine notwendige
Bedingung darstellen, dann muß man auch Schwachsinnigen und Kleinkindern
Rechtsansprüche absprechen. Da dies jedoch nicht geschieht und solche
Personengruppen ihre Interessen durch einen Anwalt vertreten lassen können,
müßte dies bei Tieren doch auch möglich sein.
Man kann natürlich einwenden, daß Tiere überhaupt keinen Auftrag zur Ver-
tretung erteilen können. Dies ist jedoch kein Gegenargument, denn im mensch-
lichen Bereich ist dies ja gerade der Grund dafür, daß z.B. bei Geisteskranken
Anwälte tätig werden, der Auftraggeber bleibt dabei vollkommen passiv.
Wenn man nun weiter davon ausgeht, daß Tiere bestimmte Bedürfnisse haben,
um ihr Leben artgerecht zu verwirklichen, dann kann man sagen, daß der
Mensch dazu verpflichtet ist, Tiere um ihrer selbst willen rücksichtsvoll zu
behandeln. Auf eine Formel gebracht könnte man - mit Dieter Birnbacher (1980,
125) - so sagen: ¯X hat immer dann ein Recht gegenüber Y, wenn Y eine
Pflicht gegenüber X hat.® Das heißt also: Tiere haben immer dann Rechte
gegenüber Menschen, wenn Menschen eine Pflicht gegenüber Tieren haben.
Entscheidend ist dabei das ¯gegenüber®, denn damit wird anerkannt, daß die
Pflicht dem Tier selbst geschuldet ist.
ad 3, 4: Das traditionelle Verhältnis des Menschen zur Natur überhaupt steht
damit zur Disposition. Die Gefahren, die wir selbst verschuldet haben, haben
uns auch sensibel gemacht. Die progressive Unterwerfung der Natur weicht
mehr und mehr dem Bewußtsein der ¯Verantwortung für die Erhaltung und
Reproduktion der Natur® (Spaemann 1979, 193). Die Macht und die Möglich-
keiten, die allein der Mensch hat, fordern geradezu sein Verantwortungsbe-
wußtsein heraus. ¯Das ist die einzig mögliche Konsequenz aus seiner ambiva-
lenten Lage, einerseits aufgrund seiner Instinktungebundenheit und Vernunft
\"über der Natur\" zu stehen, andererseits aber doch natürliches Wesen und mit
seiner Existenz an natürliche Voraussetzungen gebunden zu bleiben® (Spae-
mann 1979, 197).
Nebenbei bemerkt: Das betrifft nicht nur die Fragen des Umweltschutzes, auch
die ethischen Probleme der Gentechnologie müßten von diesem Gesichtspunkt
her neu überdacht werden.
ad 2: In Anfängen bereits erkennen wir die Interdependenz aller ökologischen
Systeme. Hier ist die Aufgabe der Biologie und Tkologie, die Zusammenhänge
aufzuzeigen und wissenschaftlich gesicherte Grundlagen zur Entscheidung
anzubieten. Der anthropozentrische Funktionalismus zerstört ja nicht nur die
Natur, sondern auch den Menschen. Nur wenn wir mehr über die Natur wissen,
können wir der gängigen Kosten-Nutzen-Rechnung etwas sberzeugendes
entgegensetzen.
3.3 Zusammenfassung
Indem wir von der Natur sprechen, sprechen wir immer als Menschen von der
Natur. Die Natur macht keine Aussagen über sich - nur der Mensch kann Aus-
sagen von sich machen.
Dann verwundert es nicht, wenn die Natur als das definiert wird, was ohne den
Willen des Menschen existiert. In seinem natürlichen Bestreben, die Natur zu
verstehen, hat die Natur-Wissenschaft ihren Gegenstand in Einzelteile zerlegt
und analysiert. Wird diese Haltung als Prinzip und Methode verabsolutiert,
verliert man den sberblick, vernachlässigt die gegenseitige Abhängigkeit der
Teile.
Dies berücksichtigt das ¯ökologische Weltbild®, das kein Zurück zur Mystifizie-
rung der Natur darstellt, aber die Natur in ihrer Gesamtheit und den Menschen
in seiner besonderen Stellung in ihr sieht.
In der Beziehung Mensch - Natur muß der Mensch also seinem Partner Natur
wieder einen anderen Stellenwert einräumen. Das neue, partnerschaftliche
Verhältnis von Mensch und Natur berücksichtigt das eigentümliche Wesen des
Menschen, der einerseits ganz Natur ist, andererseits die Natur immer als
einziges Lebewesen notwendig und wesensmäßig transzendiert.
4 Folgerungen für den Umweltschutz
4.1 Umweltschutz dem heutigen Menschen zuliebe?
Ja, aber wer den Umweltschutz so begründet, sieht das Problem als ein Pro-
blem der Güterabwägung. Die Frage lautet dann: Wie weit darf ich als Mensch
die Natur verändern, um mein eigenes Leben nicht zu zerstören? Wir wissen alle
aus Erfahrung, daß der Anteil der Natur dabei immer kleiner wird.
Auch das Argument der Schönheit der Natur erweist sich letztlich als anthropo-
zentrisch. Denn es ist wiederum der Mensch, der sich mit seinen Bedürfnissen
zum Maßstab der Natur macht. Und wir kennen alle die Aporien, in die man sich
verstrickt, wenn z.B. der Nutzen einer Autobahn mit dem Nutzen der Natur
verglichen wird. Der Gegensatz ist nur scheinbar, denn es sind beidesmal die
menschlichen Wünsche und Bedürfnisse, denen eine moralische Qualität zu-
kommt. Deshalb ist es so schwer, einen Politiker mit dieser Argumentation
davon zu überzeugen, daß der Bau der Autobahn falsch sein könnte.
4.2 Umweltschutz künftiger Generationen zuliebe?
Ja, aber auch dieses Argument sieht den Umweltschutz rein funktionalistisch.
Sicher ist es nicht zumutbar für kommende Generationen, eine Welt überneh-
men zu müssen mit irreversiblen Veränderungen. Auch ist klar, daß wir nicht
Gefahrenquellen schaffen dürfen, die sich vielleicht erst in Jahrzehnten oder
Jahrhunderten auswirken werden. Eine Gruppe von Menschen erkauft sich
dadurch Möglichkeiten auf Kosten der Freiheit künftiger Generationen.
4.3 Umweltschutz der Natur zuliebe?
Ja, allerdings, denn nur wenn die Natur als Wert an sich akzeptiert wird, ist
eine schlüssige Antwort auf die Frage ¯Warum überhaupt Naturschutz?® mög-
lich. Das bedeutet keine Rückkehr zu einer wie auch immer gearteten Sakralisie-
rung und Mystifizierung der Natur. Es geht im Gegenteil um eine Fortschreibung
der Freiheitsgeschichte in unserer Welt. Den neuen technischen Möglichkeiten
müssen neue ethische Einsichten folgen.
Es hat lange gedauert, bis man Sklaven, Frauen, Kindern und Ausländern
Rechte zugebilligt hat. Auch hier war ein Bewußtseins- und also Wertewandel
nötig. Etwas hnliches können wir heute im Verhältnis zur Natur feststellen.
Wenn das Gleichheitsprinzip auch auf die Natur ausgedehnt werden soll, dann
werden damit ja nicht die Unterschiede verdeckt, sondern es soll ein Stück
mehr an Gerechtigkeit verwirklicht werden. Und der elementarste Grundsatz der
Gerechtigkeit ist das ¯Suum cuique®: Jeder soll das bekommen, was ihm
zusteht.
5 Schluß
Zum Schluß möchte ich das Bild von Otto Neurath noch einmal aufgreifen:
Wie Schiffer sind wir, die ihr
Schiff auf offener See umbauen
müssen, ohne es jemals in einem
Dock zerlegen und aus besten
Bestandteilen neu errichten zu
können.
Die Schiffer, das sind wir Menschen, die ihre Kultur, ihr Selbst- und Naturver-
ständnis, also das Schiff, auf offener See, d.h. mitten in und mit der Natur, ver-
ändern müssen. Dabei können wir nicht bei Null anfangen, wir müssen auf dem
aufbauen, was wir vorfinden. Es ist uns verwehrt, die Natur zu verlassen und
auf ein Trockendock zu gehen und irgendwo außerhalb den archimedischen
Punkt zu finden.
Ich schließe mit einem Satz von Carl Friedrich von Weizsäcker: ¯Wenn nur noch
die sogenannte unberührte Natur das hat, was wir Erholungswert nennen, wenn
also der Mensch sich von dem erholen muß, was er anrichtet, so ist seine
Kultur eine Kultur des Selbstwiderspruchs® (Weizsäcker 1978, 113).
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