Günter Kunert
Das Fundament
I Sonne. Die Quelle. Photonen.
Langsam leben wir auf.
Wo wir auch immer wohnen,
sie bestimmt stets den Lauf
II unseres verdänmmerten Lebens
und streichelt zugleich unsre Haut:
An ihrem Leuchten vergebens
haben wir uns erbaut.
III Durchstrahlend die leeren Räume:
Für niemanden sonst ein Fest
als für unsre ärmlichen Träume,
die wer uns träumen lässt:
IV Dass sie nämlich gezündet
für uns bloß ganz allein.
Wir haben es selber ergründet:
Es muss die Wahrheit sein.
So sind wir mit ihr eines
und können nicht untergehn.
Die Wahrheit des schönen Scheines
bleibt unberührt bestehn.
Beispiel für die Interpretation eines Gedichtes
Günter Kunert, Das Fundament
1.) ALLGEMEINE VORSTELLUNG DES GEDICHTES: ÄUßERE FORM
Das Gedicht von Günter Kunert mit dem Titel \"Fundament\" umfasst fünf Strophen à vier Zeilen. Das Reimschema ist ein Kreuzreim, ein klares Versmaß ist nicht zu erkennen.
2.) INHALTSERLÄUTERUNG:
Die erste Strophe
Das Gedicht verweist am Anfang mit drei schlagwortartig vorgetragenen Begriffen auf die Sonne als Quelle des Lebens. Letzteres geht aus den Zeilen I,2 bis I,4 hervor, wo diese Bedeutung für alle Menschen deutlich hervorgehoben wird. Interessant ist dabei der Eindruck der Entwicklung zum Positiven hin, der in der zweiten Zeile erweckt wird: \"Langsam leben wir auf.\" Unklar bleibt zunächst die Bedeutung des dritten Begriffs: \"Photonen\" (I,1). Er steht in seiner Wissenschaftlichkeit etwas im Gegensatz zu den übrigen eher allgemein weltanschaulichen Feststellungen, wie man sie in vielen Naturvorstellungen findet.
Die zweite Strophe
Die zweite Strophe ist dann syntaktisch per Strophensprung mit dem Ende der Ersten verbunden, bringt aber erstmals neben dem Positiven (\"streichelt zugleich unsre Haut\",2,2) auch einen negativen Klang ins Gedicht, wenn vom \"verdämmerten Leben\" der Menschen gesprochen wird. Indem hier angedeutet wird, was ohne Sonne wäre, wird ihre Unverzichtbarkeit betont, gleichzeitig wird dem menschlichen Leben jede Selbständigkeit, Autonomie abgesprochen.
Die letzten beiden Zeilen der zweiten Strophe erweitern die negative Sicht menschlichen Lebens: Resignierend wird festgestellt, dass man sich \"vergebens\" \"an ihrem Leuchten\" erbaut habe. Inhaltlich lässt sich diese Doppelzeile zunächst nicht klar verstehen. Deutlich wird nur, dass es Grenzen der (positiven) Wirkung der Sonne gibt.
Die dritte Strophe
Etwas klarer wird dieser Gedanke in der dritten Strophe, wo von den \"ärmlichen Träumen\" der Menschen die Rede ist (3,3). Sie entsprechen wohl dem vergeblichen Erbauungsversuch aus der zweiten Strophe. Durch den syntaktisch falschen Einbau des Fragewortes \"Wer\" in die letzte Zeile wird außerdem noch als weiteres Problem aufgeworfen, dass der Mensch nicht weiß, wer in ihm eigentlich die Träume erweckt. Ein Gott oder sonst eine höhere Wirklichkeit wird hier auf jeden Fall nicht als Tatsache angenommen. Die ersten beiden Verszeilen der dritten Strophe weiten dann den Blick über den menschlichen Bereich aus: Außer der Erde gibt es nur \"leere Räume\" (3,1), \"für niemanden sonst ein Fest\" (3,2), d.h. doch wohl, dass die Sonne zwar gewisse positive Wirkungen auf die Menschen ausübt (vgl. 1,2 und 2,2), aber außer den Menschen auf der Erde gibt es keine weiteren Adressaten. Der Rest der Energie verschwindet funktionslos im Raum. Die Menschen sind allein mit ihrem bisschen, sehr beschränkten Fest.
Die vierte Strophe
Die vierte Strophe führt die Gedanken konsequent weiter, indem der Inhalt menschlicher Träume näher vorgestellt wird: er besteht darin, sich als etwas Besonderes zu fühlen, zu glauben, die Sonne scheine absichtlich für die Menschen \"ganz allein\" (4,2). In Zeile 4,3 wird dann der Titel wieder aufgenommen, wenn von \"ergründen\" die Rede ist. Das Fundament menschlichen Lebens ist der Glaube an die eigene Bedeutsamkeit, die tapfer, wenn auch etwas erzwungen aufrechterhalten wird: \"Es muss die Wahrheit sein\" (4,4).
Die letzte Strophe
Die letzte Strophe zeigt die Konsequenz eines solchen Bewusstseins: Die Menschen glauben sich der Sonne gleich und meinen, wie sie nicht untergehen zu können. Man erhält sich \"unberührt\" \"die Wahrheit des schönen Scheins\". Die letzten beiden Zeilen machen ganz deutlich, dass der Sprecher im Gedicht diese menschliche Überheblichkeit kritisiert, sich selbst als sonnengleichen und beständigen Bestandteil der Natur zu sehen.
3.) KERNAUSSAGE/INTENTION
Das Gedicht scheint zunächst ein Preislied auf die Sonne als \"Fundament\" (Titel), Schöpfer und Erhalter alles Lebens zu sein. Es stellt sich im Verlauf des Gedichtes aber heraus, dass die Wirkung der Sonne für den Menschen nicht weit genug reicht: Sie gibt zwar Wärme, aber keinen Sinn. Das eigentliche Fundament eines echten, sinnvollen menschlichen Lebens sind daher die eigenen Ergründungen (vgl. 4,3) mit denen man versucht, die \"ärmlichen Träume\" (3,3) aufzuwerten und zur sicheren Grundlage zu machen. Das Gedicht zeigt, dass zu menschlichen Leben immer auch \"die Wahrheit des schönen Scheins\" (5,3) gehört, die \"unberührt bestehn\" (5,4), d.h. gesichert bleiben muss.
In der zweiten Zeile der letzten Strophe scheint sich aber auch eine Warnung anzudeuten: Es ist gefährlich, im negativen Sinne ein \"schöner Schein\", wenn der Mensch glaubt, die Natur, verkörpert in der Sonne, sei für ihn ganz allein da. Er ist vielmehr in einem ganz anderen Sinne \"ganz allein\" (4,3) im Kosmos und trägt damit eine große Verantwortung dafür, dass die Sonne nicht eines Tages nur noch \"leere Räume\" (3,1), ohne jedes \"Fest\" (3,2) durchstrahlt.
4.) SINN/STELLUNGNAHME
Damit sind wir aber bereits im Bereich der Deutung, d.h. der Übertragung des Gedichts auf ganz bestimmte Zusammenhänge des wirklichen Lebens. Der Text kann so verstanden werden, dass er den Menschen vor der falschen Sicherheit warnen will, sich eine Welt ohne menschliches Leben nicht vorstellen zu können und deshalb zu meinen, es könne aufgrund menschlicher Fehler nicht dazu kommen. Damit wird der Mensch auf seine Verantwortung zurückverwiesen. Denn nur bei verantwortungsvollem Umgang mit seiner Stellung in der Natur, d.h. bei Schonung der natürlichen Lebensgrundlagen kann wenigstens das bisschen \"Fest\", können die paar, wenn auch \"ärmlichen Träume\" erhalten bleiben. Außerdem - und das ist wohl die einzige Stelle, wo das Gedicht seine unmetaphysische Weltanschauung verlässt - bleibt auch nur dann die Frage nach dem \"Wer\" (3,4) und damit zumindest die Möglichkeit der Antwort noch ungelöster Fragen nach dem Urgrund, der Bedeutung und dem Ziel menschlicher Existenz erhalten.
Der künstlerische Wert und der Reiz des Kunertschen Gedichts liegt wohl in dem sehr menschlichen Schwebezustand zwischen nüchternem, ja schmerzlichem und resignativem Skeptizismus, was die Autonomie und die besondere Rolle menschlichen Lebens angeht, und dem Beharren auf dem dennoch Festlichen unlebenswerten unserer Existenz. Aus all dem ergibt sich eine sehr eindringliche Mahnung zu großer Selbstverantwortung, die genau in umgekehrtem Verhältnis zur fehlenden Autarkie unserer irdischen Existenz steht.
5.) KÜNSTLERISCHE MITTEL:
Das Gedicht verzichtet weitgehend auf besonders auffallende künstlerische Mittel, sieht man einmal von der unbedingt notwendigen und wenig überraschenden Personifizierung der Sonne (vgl. 1,4 oder 2,2) ab. Der Text setzt weniger auf die Überredungskraft der Bilder als vielmehr auf die Überzeugungskraft der Gedanken, auch wenn diese nicht auf Eindeutigkeit angelegt sind, vielmehr in ihrem Andeutungscharakter den Leser bereits zur Mitarbeit herausfordern.
Dennoch sollte auf die häufige Verwendung von Gegensätzen hingewiesen werden: \"streicheln\" (2,2) - \"vergebens\" (2,3), \"Fest\" (3,2), \"ärmliche Träume\"(3,3), \"schöner Schein\" (5,3) - \"bleibt unberührt bestehn\" (5,4). Diese sprachlichen Gegensätze entsprechen der Widersprüchlichkeit unserer Existenz.
Ebenfalls eine Rolle spielt auch der begriffliche Dreiklang der ersten Verszeile, der mit dem wissenschaftlichen Ausdruck \"Photonen\" auch schon eine Störung und Infragestellung des \"schönen Scheins\" (Sonne als sichere Quelle des Lebens) andeutet. Erinnert werden soll auch noch einmal an den syntaktisch sehr gewagten, inhaltlich aber wohl begründeten Einbau des Fragewortes \"Wer\" in den Hinweis auf die \"ärmlichen Träume\" (3,3/4). So wie das Wort hier das Sprachgefühl quält, quält vielleicht auch die ungelöste Frage nach der Herkunft unserer Träume. Aber dies mag schon als gewagt erfunden werden. Daher soll als letztes künstlerisches Mittel hier nur noch der Effekt angeführt werden, der dadurch entsteht, dass nicht die am Anfang genannte Sonne sich als das sichere Fundament unserer Existenz herausstellt, sondern das Verhalten des Menschen.
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