Um die Kritik an den Erziehungsnormen, der Wedekind in "Frühlings Erwachen" Ausdruck verleiht, besser verstehen und die Analyseansätze der Literaturwissenschaftler, die sich mit seinem Werk befasst haben, besser beurteilen zu können, ist es zuerst nötig, sich mit seiner Sicht der menschlichen Sexualität vertraut zu machen.
Im gesamten literarischen Werk Frank Wedekinds ist das Thema der menschlichen Sexualität von zentraler Bedeutung. Dabei beschäftigt sich Wedekind in seiner Auseinandersetzung mit der Pubertät fast ausschließlich mit dem Erwachen und dem Durchbruch des Sexualtriebes und lässt andere Aspekte der Pubertät wie beispielsweise die Selbstfindung oder Eigenverantwortung außen vor. Dem könnte man entgegen halten, dass sich die Mädchen durchaus Gedanken über ihre Zukunft machen (Selbstfindung) oder Melchior seine Verantwortung gegenüber Wendla wahrnehmen will (Eigenverantwortung). Dies sind allerdings nur Ausnahmen, dominierend ist die Auseinandersetzung mit dem erwachenden Geschlechtstrieb (vgl. Titel). Die Sexualität nennt Wedekind 1910 "neben unserem Broterwerb vielleicht das allerwichtigste Gebiet unseres irdischen Daseins." Die Ursache von menschlichen Katastrophen wie in Frühlings Erwachen" sieht Wedekind in der Geringschätzung und Entwürdigung des Körperlichen. "Das Fleisch hat seinen eigenen Geist", den Wedekind Erotik nennt. Die Lebensfreude wächst in direkter Abhängigkeit entsprechend dem Ausleben der Triebe. Die Liebe reduziert sich bei Wedekind auf die Sexualität. Er vertritt die Auffassung, dass der Egoismus Triebkraft allen menschlichen Handelns ist. Diese Überzeugung lässt er Melchior im Augenblick seiner triebgesteuerten Handlung an Wendla ausrufen: "O glaub mir, es gibt keine Liebe! - Alles Eigennutz, alles Egoismus! Ich liebe dich so wenig, wie du mich liebst"(34/23ff) Schon mit 17 Jahren bekennt Wedekind in einem Brief an Adolf Vögtlin seine Egoismustheorie, dass der Mensch "keine andere Liebe kennt, als Egoismus." Natürliche Scham existiert für Wedekind nicht, vielmehr ist er der Ansicht, dass sie allenfalls "ein Produkt seiner Erziehung ist"(7/38), wie er es Melchior ausdrücken lässt. "Kein vernünftiger Mensch hat das Schamgefühl noch je als eine Tugend hingestellt, die gepflegt und großgezogen werden soll." Die Maske der Scham verdeckt die Wahrheit und ist Ausdruck der verlogenen Moral. "Wedekinds Menschenbild ist getragen von einem großen Vertrauen in den unverbildeten natürlichen Menschen" . Sein Anliegen ist es, die bürgerliche Moral zu reformieren. Er ist davon überzeugt, dass die Triebe des Menschen sein Glück bestimmen können und sie deshalb aus der bürgerlich-moralischen Unterdrückung befreit werden müssen. Der anthropologische Optimismus Wedekinds beruht also sehr einseitig auf den Trieben. In seinen Werken versucht er dieser Überzeugung Ausdruck zu verleihen, um, besonders im Falle von "Frühlings Erwachen", der heranwachsenden Jugend "bei Erziehern, Eltern und Lehrern zu einer humaneren rationelleren Beurteilung zu verhelfen." Bezüglich der sexuellen Aufklärung müssen die Eltern laut Wedekind den Kindern in erster Linie bewusst machen, "dass es in der Natur überhaupt gar keine unanständigen Vorgänge gibt." Den Teufelskreis des systematischen Totschweigens der Sexualität und die vorgeschobene Begründung dafür beschreibt er folgendermaßen: "Fragt jemand nach dem Grunde, dann wird er zurechtgewiesen: Es ziemt sich nicht. Es schickt sich nicht. Es gehört sich nicht. Und fragt er: Warum es sich nicht gehört? Weil es unanständig ist." Künstlerisch verarbeitet hat der Schriftsteller diesen Gedanken in der Lehrerratssitzung. Um "ohne Schwindelanfälle und Herzbeklemmungen ermessen [zu] können, wie wenig oder wie "viel [Eltern] Kindern davon mitteilen können, müssen sich die Eltern einmal in sexueller Beziehung [...] klar werden." Die hier von Wedekind beschriebene Art der Sexualaufklärung formuliert eine Idealvorstellung, die fern von der in "Frühlings Erwachen" dargestellten Realität ist.
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