Die Zeit vergeht ohne große Freuden, aber auch ohne große Leiden.
Als Anfang Mai 1701 die Orléans Versailles verlassen und nach Saint-Cloud reisen, wo sie gewöhnlich den Sommer verbringen, wird Madame erneut krank. Sie bekommt öfters Fieberanfälle, dessen Ursache die Ärzte weder kennen noch heilen können. Die Fieberanfälle verschlimmern sich.
Am Morgen des 8. Juni bricht Monsieur, "ganz frisch und gesund", zusammen und ist ohne Bewußtsein. Der Sterbende sieht nichts mehr und hört nichts mehr. Gegen Mittag verlöscht das Lebenslicht ganz. Madame trauert um ihren Gemahl, sowenig er auch ihr Gemahl gewesen war. Vierzig Tage Zurückgezogenheit - so will es die Sitte bei Trauerfällen.
Leider hatte Monsieur einen großen Berg von Schulden hinterlassen. Aufgrund eines Versäumnisses im Heiratsvertrag war Madame vor die Wahl gestellt: Entweder sie bezahlt (mit welchem Geld?) die Hälfte der Schulden, oder sie verzichtet auf die aus der Familie stammenden Güter. Sie muß verzichten. Aber wie soll sie jetzt ihren Lebensunterhalt bestreiten?
Mit dem Tod von Monsieur ist Madame von einer gewissen Anzahl von Verpflichtungen befreit. Sie braucht die für ihr Gleichgewicht so notwendigen Augenblicke des Alleinseins nicht mehr zu erkämpfen: "Ich bin den ganzen Tag allein in meinem Kabinett, und die Zeit wird mir nicht lang."
Nein, die Zeit wird ihr nicht lang. Auch wenn sie sich mit zunehmendem Alter entschließen muß, auf die Jagd zu Pferde zu verzichten. Sie überhäuft ihre Bekanntschaft mit Briefen. Über viertausend Briefe sind heute bekannt, und hier und da tauchen von Zeit zu Zeit noch neue auf. Dreitausend stammen aus den zwanzig Jahren, die zwischen Monsieurs und Madames Tod liegen.
Hat sie vielleicht mit zunehmendem Alter ein wachsendes Bedürfnis, die Verbindung zur Familie aufrechtzuerhalten, auch wenn es sich um ganz entfernte Cousins handelt, die sie nie gesehen hat und niemals sehen wird? Ist es eine Möglichkeit, dem Hof zu entkommen, der sie nicht meht beachtet?
Madame schreibt alles, was ihr in den Kopf kommt, sie offenbart sich ganz und gar in ihren Briefen.
Außerdem ließt Madame unendlich viel. Ihre Bibilothek zählt mehr als 1300 Titel, die eine erheblich größere Zahl von Bänden umfassen, da es sich um Werke von 5, 6, 12, ja 20 Bände handelt.
Unglück hat auch sein Gutes. Der Tod von Monsieur, den sie so beweinte, hat sie von den Zwängen des Hofes befreit, die ihr die Jugend verdorben hatten. Madame kann sich jetzt ein Leben nach ihrer Vorstellung einrichten.
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