Interpretation: Thomas Mann : "Der Tod in Venedig"
"Das Problem aber, das ich besonders im Auge hatte, war das der Künstlerwürde - ich wollte etwas geben wie die Tragödie des Meistertums.", so schrieb Thomas Mann im September 1915 in einem Brief an Elisabeth Zimmer. Diese Problematik wird vor allem am Ende seiner Novelle "Der Tod in Venedig" verdeutlicht, die er 1913 veröffentlicht hatte.
"Der Tod in Venedig" handelt von dem alternden Schriftsteller Gustav von Aschenbach, der sich in Venedig, wo er Urlaub macht, in den 14- jährigen Jungen Tadzio verliebt, in dessen Bann gezogen wird und letztendlich stirbt Aschenbach in Venedig an Cholera.
Thomas Mann schrieb diese Novelle inspiriert durch seinen eigenen Italienaufenthalt, bei dem er vom Tod des Komponisten Gustav Mahler erfuhr. Diesen bewunderte er und entlieh sich ihm zum Gedenken dessen Aussehen und Vornamen für seine Hauptfigur Gustav von Aschenbach.
Am Ende des 5. Kapitels der Novelle lässt sich Gustav von Aschenbach verjüngen, um dem schönen Jüngling Tadzio zu gefallen, den er durch Venedig verfolgt. Von der Verfolgung erschöpft, lässt sich Gustav von Aschenbach auf einem Platz in Venedig nieder, um etwas auszuruhen.
Der auktoriale Erzähler würdigt in diesem Auszug (S. 133 - 135) aus der Novelle den Künstler Aschenbach, indem er ihn als "[.] Meister [.]" (S. 133) bezeichnet. Nach außen stellt Aschenbach das Ideal und Vorbild eines Künstlers dar, der alles erstrebenswerte erreicht hat, welches sich in der Akkumulation: "[.] der würdig gewordene Künstler, der Autor des "Elenden", der in so vorbildlich reiner Form [.], der Hochgestiegene, der Überwinder seines Wissens [.]" (S. 133) verdeutlicht.
Im Folgendem argumentiert die "Figur" Aschenbach in einer Vision, d.h. einem Traum, genau dagegen.
Dieser ganze Traum (S. 134 - 135) ist als Metapher und Symbol zu bezeichnen, in dem Aschenbach versucht seine Gefühle darzustellen. Er setzt sich dabei als den Alten mit Sokrates gleich und den schönen Jüngling Tadzio mit Phaidros.
Die Vision setzt sich mit Liebe, Schönheit, Sehnsucht und Tugend auseinander. Aschenbach richtet seine Vision an Tadzio, da er innerhalb der Vision "Phaidros" immer wieder als Adressat benennt.
Er argumentiert das Künstler über Sinne, also Wahrnehmungen, arbeiten. Der Künstler sieht in der Schönheit den Abglanz Gottes, der das wahre Gute und die Wahrheit selbst verkörpert.
Durch die anthithetische Gegenüberstellung von Verstand, als "Weisheit" und "Geistiges" (S. 134) und den "Sinnen" (S. 134), die erlebbar und mit persönlichen Empfindungen verbunden sind, stellt er aber die Findung der Wahrheit in Frage. Für ihn ist Schönheit nur ein Irrweg, da der Künstler von ihr in einen Rausch geführt wird, der sich in der Personifikation "ohne dass Eros sich zugesellt und sich zum Führer aufwirft" (S. 134) deutlich macht. Hier wird auch der Verlust der Würde des Künstlers zum Ausdruck gebracht, da dieser sich unter den Willen des griechischen Liebesgottes und leidenschaftlichen Eros wirft und nicht auf seine Respektierung achtet. In der Alliteration und dem metaphorischen Vergleich "so sind wir wie Weiber" zeigt sich, dass der Künstler nur nach seinen Empfindungen handelt und dabei seinen Verstand und seine Persönlichkeit, d.h. seine Identität, zu verlieren droht.
Der Gefahr des Verstandesverlustes ist aber nicht nur Aschenbach ausgesetzt, sondern jeder Künstler, da von "wir Dichter" als Metonymie gesprochen wird und somit auch der auktoriale Erzähler gefährdet ist. Der Künstler ist dann in diesem Empfindungsrausch und Gefühlsfrevel gefangen und wird somit zwangsläufig fehlgeleitet, welches sich in der rhetorischen Frage "Siehst du nun wohl, dass wir Dichter nicht weise noch würdig sein können? Daß wir notwendig in die Irre gehen, notwendig liederlich und Abenteurer des Gefühls bleiben?" widerspiegelt. Aschenbach, der die künstlerische Haltung Thomas Manns verkörpert, bringt zum Ausdruck, dass sie die Ehre, die ihm erteilt wird, nicht verdient haben, da sie nur scheinbar mehr wissen, aber eigentlich auch nicht die Wahrheit erkennen können. Diese Aussage verdeutlicht sich in der Personifikation: "Die Meisterhaltung unseres Stiles ist Lüge und Narrentum, unser Ruhm und Ehrenstand eine Posse [...]". Daraus ergibt sich für ihn, dass Künstler nicht zur "Volks- und Jugenderziehung" (S. 135) geeignet sind, da sie andere gefährden, wenn sie diese etwas lehren sollen, da sie vom Abgrund angezogen werden, auch wenn der Künstler dies zu leugnen versucht und sich scheinbar dagegen wehrt. Er ist dabei aber hilf- und machtlos gegenüber seinem inneren Drang, was sich in der Antithese: "aber wie wir uns auch wenden mögen, er zieht uns an" (S. 135) widerspiegelt.
Der Künstler kann seiner Meinung nach nicht zur Erkenntnis kommen, da er von Gefühlen und Leidenschaft geleitet wird, und nach Form, Strenge und Haltung strebt. Dies ist aber unvereinbar mit der Erkenntnis des Göttlichen, zu der man nur ohne Leidenschaft, also mit Rationalität, Bodenständigkeit und Verstand, kommt.
Aufgrund dessen gibt sich der Künstler "der Einfachheit, Größe und neuen Strenge, der Unbefangenheit und der Form" (S. 135) hin. Durch diese Aufzählung wird die Schönheit charakterisiert, die den Abglanz des Göttlichen darstellt, in der sich der Künstler verliert. Der Künstler verliert somit seinen Verstand und die Kontrolle. Er kann sich nicht mehr weiter bewegen, erheben, sondern verharrt in seiner Position und kann "nur aus[zu]schweifen", d.h. sich immer weiter im Rausch verlieren, der sein Ende bedeutet. Hierin zeigt sich ein Vorgriff auf das Ende Aschenbachs, der schon in Tadzios Bann liegt und am Ende an Cholera stirbt.
Die einzig mögliche Lösung, die Aschenbach sieht, ist die Trennung, welches sich in dem emphatischen Wortgebrauch: "Und nun gehe ich, Phaidros, bleibe du hier; und erst wenn du mich nicht mehr siehst, so gehe auch du." (S. 135) klar offen legt. Diesen letzten Schritt zu gehen, bringt Aschenbach aber nicht übers Herz und somit stirbt er.
In diesem homoerotischen Dialog macht Thomas Mann dem Leser die Künstlerproblematik auf einem sehr hohen Sprachniveau und durch einen komplizierten hypotaktischen Satzbau, der es ihm ermöglicht auf kompakte Weise viele und dichte Informationen zu vermitteln, und den immer wiederkehrenden Bezügen zur Antike deutlich. In dem aufrichtig- idealistischen Streben nach Wahrheit ist der Künstler konfrontiert mit Sinnlichkeit und Leidenschaft, in deren Verkettung er immer wieder aufs Neue seinen Verstand riskiert.
Somit lässt sich abschließend sagen, dass Gustav von Aschenbach auf vielfältige Weise, die künstlerische Einstellung Thomas Manns, aber auch dessen Sehnsüchte und Ängste, zum Beispiel seinen eigenen Ansprüchen nicht genügen zu können, wiedergibt
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