Die Schaffenskrise, in der Aschenbach zu Beginn steckt, hatten zu dieser Zeit viele bürgerliche Künstler. Die Krise wurde vor allem durch den sich rasch vollziehenden wirtschaftlichen Wandel hervorgerufen. Das neugegründete Kaiserreich entwickelte sich von 1871 bis 1914 zu einem hochindustrialisierten Staat, wobei der Prozess durch zeitweilige Stagnation unterbrochen wurde. Neben dieser Ungewissheit der Zukunft, machten den Schriftstellern die Landflucht und die Verstädterung zu schaffen: Die Bevölkerung der Grossstädte bildete Parteien, Vereine und Verbände, so dass sie ihre Rolle als Sprecher und Repräsentanten ihrer Schicht (des gebildeten Bürgertums), welche sie noch im 19. Jahrhundert innehatten, in Gefahr sahen. Eine nächste Schranke wurde durch das politische System aufgebaut. So hatte der Kaiser das Sagen, was Wilhelm II. auch in der Kunst zu verstehen gab: "Eine Kunst, die sich über die von Mir bezeichneten Gesetze und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr.\"
Weil Thomas Mann als gesellschaftskritischer Künstler unter diesen Umständen kaum überlebensfähig gewesen wäre, übernahm er in "Tod in Venedig\" die Grundüberzeugungen der Obrigkeit. So wird bei Aschenbach auf "jene adelige Reinheit, Einfachheit und Ebenmässigkeit der Formgebung, welche seinen Produkten fortan ein so sinnfälliges, ja gewolltes Gepräge der Meisterlichkeit und Klassizität verlieh\" (28) geachtet. Sein Aufstieg zum repräsentativen Künstler beruht auf der Unterwerfung unter die Gesetze und Schranken des Kaisers Wilhelm II. Durch die Übernahme der preussischen Ideologie scheint es Aschenbach gelungen zu sein, die Identitätsproblem zu bewältigen. Jedoch bringt die neue Identität des repräsentativen Nationalschriftstellers eine untragbare Verantwortung mit sich, so dass das Ergebnis am Ende der Tod ist.
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