Auch eine Art Schicksalsspiel beschreibt Stefan Zweig in seiner populären \"Schachnovelle\". Vordergründig geht es um das Duell des Autodidakten Dr. B. gegen den Weltmeisters Mirko Czentovic an Bord eines Ozeandampfers, in Wahrheit ist es jedoch das Duell zweier Menschentypen, zweier Weltanschauungen und Kulturen: des feinsinnigen, aufgeklärten europäischen Kulturbürgers der Jahrhundertwende gegen den dumpfen, rücksichtslosen Barbaren, des aufkommenden Faschismus und Materialismus. Das Duell dieser beiden Kontrahenten war nicht nur prägend für Europa, es blieb letztlich das Schicksal für Zweig selbst.
Czentovic ist der Typ des reinen Fachidioten, den man nicht nur unter Schachspielern so häufig antrifft: seine Begabung für Schach wird schnell erkannt und gefördert. Alle ihm geistig unermeßlich überlegenen Gegner fegt er mit seiner monomanischen Besessenheit aus dem Weg, bis er bereits mit 20 den Weltmeisterthron erklommen hat. Doch außerhalb des Spiels bleibt er ein Kretin und halber Analphabet, ein bloßer Schachroboter ohne Vorstellung einer Welt jenseits der 64 Felder, ein gefühlsloser Materialist, der keine anderen Werte kennt als kalt lächelnden Stolz und plumpe Habgier.
Einen ganz anderen Zugang zum Schach hat Dr. B. Als ehemaliger Verwalter klerikaler Klöster wird er beim Anschluß Österreichs an Nazi-Deutschland inhaftiert. Mit Isolation von jeglicher Außenwelt versuchen die Nazis seinen Willen zu brechen, um ihm den Verrat anderer abzupressen. Doch nahe vor seinem geistigen Zusammenbruch fällt Dr. B. bei einem seiner Verhöre ein Buch in die Hände, ein Schachbuch mit 150 Meisterpartien, die ihm eine ganz neue Welt eröffnen, eine Welt, in die er aus der Einsamkeit und Ödnis seiner Zelle zu fliehen vermag.
Wieder und wieder spielt Dr. B. die Schachpartien nach, bis er sie auswendig kennt. Dann beginnt er in seiner Zelle blind gegen sich selber Schach zu spielen. Auch er entwickelt eine Besessenheit für das königliche Spiel. Verhöre, jede Störung von außerhalb sind für ihn nun nichts weiter mehr als unwillkommene Unterbrechungen seiner geistigen Schachpartien, bis sein fanatisches Blindspiel in einem verzehrenden Fieberwahn des innerlichen Kampfes gegen sich selbst und schlußendlich im Nervenzusammenbruch mündet.
Auf seiner Reise ins Exil wird er einer Beratungspartie des Weltmeisters gegen eine Handvoll Amateure gewahr, und er kann nicht anders, als sich in die Schachpartie einzumischen, hält sie für die vollkommen unterlegenen Amateure noch Remis. Einem Zweikampf gegen den Weltmeister stimmt er nur zu, um sich selbst zu beweisen, ob er überhaupt wirkliches Schach zu spielen gelernt hat in der Einsamkeit seiner Zelle oder ob er nichts weiter als einem geistigen Fieberwahn erlegen ist.
Dr. B. gewinnt die erste Partie gegen Czentovic. Während der Weltmeister über jedem Zug dumpf brütet, schüttelt der Autodidakt seine Erwiderungen scheinbar mühelos aus dem Ärmel. Doch Czentovic erkennt die Schwäche seines Gegners. In einer Revanchepartie läßt er mit jedem Zug die maximal vereinbarte Bedenkzeit verstreichen. Dr. B. wird zusehends nervös. In seinem Hirn hat sich die alte Maschinerie wieder in Gang gesetzt. Er verfällt erneut dem Schachfieber, spielt gleichzeitig in seinem Kopf Partien gegen sich selbst, ununterbrochen vor sich hin murmelnd, und erneut bricht die Krise in ihm aus und er schleudert Czentovic mit einem lauten \"Schach!\" einen unmöglichen Zug aufs Brett. Der Erzähler kann Dr. B. überzeugen, die Partie abzubrechen und aufzugeben. Und als Dr. B. das Brett verläßt, wieder ganz der höfliche Gentleman von zuvor, weiß er, daß er nie wieder ein Schachbrett anfassen darf, um nicht einer erneuten \"Schachvergiftung\" anheimzufallen. Zurück bleibt ein höhnisch triumphierender Weltmeister.
Es blieb auch Stefan Zweigs Fazit, daß der Kampf gegen den \"neuen Menschen\" und den 1942 über Europa und die Welt brandenden Faschismus nicht geführt und gewonnen werden kann. Kurz nach Abschluß der Schachnovelle, seines literarischen Testamentes sozusagen, nahm er sich mit seiner Frau im südamerikanischen Exil das Leben. Zwar wurde der Nationalsozialismus Hitlers letzendlich gestoppt, doch konnte das den Siegeszug des \"neuen Menschen\" des Materialismus über Geist und Kultur wirklich verhindern? Oder sind nicht Zweigs Charaktersierungen des dumpfen Banausen Czentovic heute sogar noch aktueller geworden, weil sie die selbsternannten Eliten eines wert(e)losen Materialismus und Kapitalismus des 21. Jahrhunderts so präzise und treffend demaskieren wie die \"Herrenmenschen\" von einst?
\"Ist es nicht eigentlich verflucht leicht, sich für einen großen Menschen zu halten, wenn man nicht mit der leisesten Ahnung belastet ist, dass ein Rembrandt, ein Beethoven, ein Dante, ein Napoleon je gelebt haben? Dieser Bursche weiß in seinem vermauerten Gehirn nur das eine, daß er seit Monaten nicht eine einzige Schachpartie verloren hat, und da er eben nicht ahnt, daß es außer Schach und Geld noch andere Werte auf unserer Erde gibt, hat er allen Grund, von sich begeistert zu sein.\"
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