Wer war Sokrates? Er ist vielleicht die rätselhafteste Person in der Geschichte der Philosophie. Er hat keine einzige Zeile geschrieben. Trotzdem gehört er zu denen, die den allergrößten Einfluss auf das europäische Denken hatten. Dass man ihn auch kennt, wenn man mit Philosophie wenig zu tun hat, hängt wahrscheinlich mit seinem dramatischen Tod zusammen.
Wir wissen, dass er in Athen geboren wurde, und dass er dort sein Leben vor allem auf Marktplätzen und in Straßen verbrachte, wo er mit allen möglichen Leuten redete. Die Felder und Bäume auf dem land könnten ihn nichts lehren, meinte er. Er konnte auch viele Stunden lang in tiefes Nachdenken versunken dastehen.
Noch zu seinen Lebzeiten galt er als rätselhafte Person und nach seinem Tod wurde er bald als Gründer der verschiedensten philosophischen Richtungen betrachtet. Eben weil er so rätselhaft und mehrdeutig war, konnten ihn sehr unterschiedliche Richtungen für ihre Andeutungen reklamieren.
Sein Inneres war "vollkommen herrlich", wie es hieß. Mehr noch: Man könne in der Gegenwart und in der Vergangenheit suchen, aber seinesgleichen werde man nirgends finden.
Trotzdem wurde er wegen seiner philosophischen Aktivitäten zum Tode verurteilt.
Das Leben des Sokrates kennen wir vor allem durch Platon (siehe unten), der sein Schüler war und selber einer der größten Philosophen der Geschichte wurde.
Platon verfasste viele Dialoge - oder philosophische Gespräche -, in denen er Sokrates auftreten lässt.
Wenn Platon Sokrates Worte in den Mund legt, können wir natürlich nicht sicher sein, ob Sokrates diese Worte wirklich gesagt hat. Deshalb ist es nicht leicht, die Lehre des Sokrates von der des Platon zu unterscheiden. Dieses Problem gilt auch für mehrere andere historische Persönlichkeiten, die keine schriftlichen Quellen hinterlassen. Das bekannteste Beispiel ist natürlich Jesus. Wir können nicht sicher wissen, ob der "historische Jesus" wirklich gesagt hat, was Matthäus oder Lukas ihm in den Mund legen. Auf diese Weise wird es immer ein Rätsel bleiben, was der "historische Sokrates" wirklich gesagt hat.
Wer Sokrates "eigentlich" war, ist aber trotzdem nicht so wichtig. Es ist vor allem Platons Bild von ihm, das die wesentlichen Denker seit 2400 Jahren inspiriert.
Der eigentliche Kern in Sokrates' Wirken war, dass er die Menschen nicht belehren wollte. Statt dessen vermittelte er den Eindruck, selber von seinem Gesprächspartner lernen zu wollen. So gab er gern vor, nichts zu wissen. Im Laufe des Gesprächs brachte er dann oft den anderen dazu, die Schwächen seiner Überlegungen einzusehen. Einsicht ist das Stichwort! Das war es zumindest für Sokrates. Denn wirkliche Erkenntnis muss von Innen kommen. Sie kann anderen nicht aufgedrängt werden. Nur die Erkenntnis, die von Innen kommt, ist wirkliche Einsicht.
Sokrates meinte, dass alle Menschen philosophische Wahrheiten einsehen, wenn sie nur ihre Vernunft anwenden. Sie stellt das Fundament für unsere Erkenntnisse dar.
Mit seinem starken Glauben an die Vernunft war Sokrates also ein ausgeprägter Rationalist (siehe unten: Rationalismus).
Bevor wir uns jedoch den Rationalisten zuwenden, müssen wir uns Sokrates Schüler Platon widmen, der ebenfalls erkenntnistheoretische Überlegungen anstellte.
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