Die Deutschstunde ist eigentlich ein moderner Bildungsroman, der jedoch weniger auf der geschichtlich-gesellschaftlichen Ebene als vielmehr auf der Ebene des wider-
spiegelnden und verarbeitenden Einzelbewußtseins spielt. Die Geschichte hat den einzelnen an sich selbst zurückverwiesen. Nur von ihm, von seiner Bereitschaft zu kritischer Wachsamkeit, kann eine humane Zukunft ihren Ausgang nehmen.
Zugleich ist die Deutschstunde aber auch ein Zeitroman, der einen repräsentativen, subjektiv vermittelten Querschnitt durch eine Geschichtsphase heilloser Verstrickungen gibt. Die kritischen Geschichtsbefunde erhalten ihren Wert in Bezug auf das Subjekt, das sich erinnernd zu verstehen beginnt.
Lenz ist kein Satiriker, der das Abweichende und Verkehrte verurteilt. Sein Ich-Erzähler bezieht sich selbst in die kritische Zeitdarstellung mit ein, er ist ein verstricktes Opfer und distanzierter Zeuge in einer Person. Erst, indem er sich den kritischen Zuständen selbst aussetzt, wird er fähig, sie zu verstehen und Klarheit über sich selbst zu gewinnen.
In der Struktur des Romans spiegelt sich der verhaltene Optimismus des humanen Realisten, der den Menschen wieder eine Chance gibt, wenn sie aufhören an Ideale und Programme zu glauben, wenn sie den Pedanten der Pflicht ebenso mißtrauen, wie den Besserwissern und offen werden für die Mitgestaltung einer Welt, in der alle in Freiheit und Frieden leben können. Eine solche Offenheit erfordert nie ermüdende Wachsamkeit und den Widerstand jedes einzelnen gegen die Mächtigen.
Lenz deckt darüber hinaus die Wurzeln des Nationalsozialismus auf, der nur auf einer Basis einer sklavisch ergebenen Führergefolgschaft gedeihen konnte. In der Familie wird das als negativ angesehen, was als negativ von oben verordnet ist. Das Fremde wie das Kranke widersprechen gleichermaßen dem auserwählten gesunden deutschen Volkstum, dem anzugehören sich der Kleinbürger schmeicheln darf. Völlig einig weiß sich das Ehepaar Jepsen gegen alles Fremdländische und Zigeunerhafte, im Haß gegen das, was der Führer als unwertes Leben verworfen hat. Als Eltern vertreten sie ihren Kindern gegenüber die Obrigkeit. Das Elternhaus verkommt zum Strafgerichtshof, der prügelnde Vater zum Vollstrecker. Fragen, Zweifel und Begründungen des eigenen Handeln sind ausgeschlossen in einer Gesellschaft der Geführten und Verführten. In Rugbüll spiegelt sich die verbrecherische Macht der Nazis wieder. Der Polizeiposten, mehr Opfer als Täter, macht auch die eigenen Kinder zu Opfern der allgemeinen Menschenverachtung. Während er seinen ältesten Sohn Klaas pflichtgemäß der Gestapo übergibt, nachdem dieser versucht hatte, durch Selbstverstümmelung dem Wehrdienst zu entgehen und unterzutauchen, treibt er Siggi, den er als Spitzel mißbraucht, in die zwangsneurotische Vorstellung, die gefährdeten Bilder in Sicherheit bringen zu müssen, indem er sie entwendet und versteckt. Wie die Pflichtbesessenheit dauert auch die Zwangsneurose über 1945 hinaus an und läßt Siggi zum Bilderdieb werden. In aller Breite schildert der Roman die irrationale Kälte in den Familienbeziehungen der Jepsens, die Beschränktheit des heimatlichen Dorflebens.
Rugbüller "Lebenskunde" bedeutet die Verkümmerung von Elternliebe, Freundschaft, Nachbarschaft und die Verhinderung des Individuellen und Lebendigen. Heimat in Rugbüll ist ein Schreckensort, wo der Kleinbürger von Nazis Gnaden sein Unwesen treibt und alle Menschlichkeit verachtet. Lenz begnügt sich jedoch nicht mit einem negativen Porträt der Provinz. In wenigen Gestalten und Szenen offenbaren sich Spuren von Menschlichkeit, die nicht nur als Kontrast gemeint sind, sondern in eine mögliche Zukunft weisen. Zum Beispiel die im Abseits von Rugbüll lebende Hilde Isenbüttel, die sich in ihrer Zuwendung zum Mitmenschen nicht irreführen läßt. Auf dem Hof beschäftigt sie einen belgischen Kriegsgefangenen, in den sie sich verliebt und von dem die schließlich ein Kind erwartet. Als ihr Mann als Krüppel aus dem Krieg zurückkehrt, nimmt sie sich seiner ohne zu zögern an.
[ Wir wollten weggehen und sahen im Weggehen Hilde Isenbüttel über den Bahnsteig laufen, dorthin, wo der Gepäckwagen gestanden hatte. Was war da? Was wollte sie? Das saß also ein Mann in Uniform auf der Erde, zu ihm lief sie. Der Mann saß neben einer flachen, Karre, mit Rädern. Er saß aufrecht. Ihm fehlten jedoch beide Beine. Der Mann war barhäuptig, er hatte aber noch ein junges Gesicht. Er sah ihr entgegen und packte sie fest am Oberarm, als sie sich vor ihn hinkniete. Das ist doch Albrecht, sagte der Maler, Albrecht Isenbüttel: er muß rausgekommen sein von da oben, von Leningrad. Die Frau befreite sich aus dem Griff des Mannes und umarmte ihn plötzlich. Dann stand sie auf und setzte ihn auf die Karre. Hilde Isenbüttel zog allein die Karre über den Bahnsteig und der Mann saß steif aufrecht...]
Liebe und Fürsorge machen nicht Halt vor dem angeblich Fremden wie vor dem Schwachen und Versehrten. Im Kontrast zu dem liebenden und fürsorgenden einzelnen tritt die Unmenschlichkeit der Nazi-Ideologie mit ihrem Fremdenhaß und ihrer Verherrlichung der Stärke um so greller hervor, vor allem aber wird erkennbar, worauf eine künftige humane Gesellschaft zu gründen wäre. Der Erzähler Lenz erweist sich einmal mehr als realistischer Optimist, der angesichts menschenverachtender Beschränktheit die Hoffnung auf Humanität aufrecht erhält.
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