Die Grundlage der Erziehungskritik und ihrer Wirkung auf den Leser besteht darin, dass den Kindern (mit Ausnahme von Frau Gabor anfangs noch) keine Autoritätsperson oder Instanz vom Dichter zugeordnet ist, die für sie Partei ergreifen oder sie beschützen würde. In "Frühlings Erwachen" fehlt gewissermaßen eine "Lobby" der Kinder, sie werden von ihren Eltern im Stich gelassen; es gibt kein faires Gegeneinander. Die Jugendlichen sind ihren Vorgesetzten schutzlos ausgeliefert und von deren Gunst abhängig. Bleibt diese aus, wie im Falle Melchiors, sind sie ihrem Schicksal überlassen. Dies aktiviert beim Leser einen Beschützerinstinkt, er "muss" für die Wehrlosen Partei ergreifen und ihre Gegner kritisieren. Gerade das ist meiner Ansicht nach auch ein Grund dafür, dass "Frühlings Erwachen" erst nach 12 Jahren zur Uraufführung zugelassen wurde, da man es nicht gewohnt war, Staatsinstitutionen bzw. die "sittliche Weltordnung" zu kritisieren. Diesem unmissverständlichen Angriff auf bestehende Autoritäten und Werthaltungen war man in der Aufführung ausgeliefert, sie war so offensichtlich, dass man sich ihr nicht entziehen konnte. Damit versuchte Wedekind, die Haltung des Theaterbesuchers zu beeinflussen. Dem Unterdrückungszusammenhang (basierend auf der sozialen Struktur der Familie) entspricht das
"dramaturgische Verfahren, auf die direkte Konfrontation von Kindern und Eltern zu verzichten: ein Streit zwischen Vater und Sohn findet nicht statt, die Auseinandersetzungen Wendlas mit ihrer Mutter verlaufen ausgesprochen versöhnlich."
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