Innerhofer ist wie Holl, die Figur seiner Romane, als Sohn einer Landarbeiterin in der Nähe von Salzburg geboren, unehelich. Mit sechs Jahren wurde er auf den Hof seines Vaters gesteckt, weil ihn seine Mutter nicht einmal mehr durchbringen konnte. Elf Jahre lebte er dort als Knecht, als "Leibeigener\". Und "lebte", das heißt hier einzig und allein "arbeitete", obwohl noch ein Kind, vom Sonnenaufgang bis in die späten Abendstunden. Jeglicher Willkür wehrlos ausgesetzt, von den Kindern, seinen Halbgeschwistern, als Knecht gedemütigt, von den Knechten als Bauernsohn verachtet, eben der letzte Dreck, gerade gut genug zum Arbeiten. Leben und Arbeiten waren unmittelbar eins. Das sprachlose Kind, einfach Holl genannt, ohne Vornamen, hat sich seine Identität im direkten Sinn des Wortes, der Not und dem Zwang folgend, erarbeitet. Sein Leben war Arbeit. Im Zuge der immer mehr fortschreitenden Technisierung der Landwirtschaft machte er sich notgedrungen mit den Maschinen, die Stück für Stück auf dem Hof angeschafft wurden, vertraut und schließlich war er der einzige, der wirklich etwas davon verstand. Das einseitige Abhängigkeitsverhältnis begann sukzessive in ein wechselseitiges umzuschlagen. Das bloße Objekt, in fremden Händen, begann sich freizuarbeiten. Aus Holl, "man dachte die Menschen auch nur im Zusammenhang mit Handgriffen\" wurde allmählich FRANZ Holl, ein ICH, mit dem Recht auf (s)einen eigenen Namen.
"Arbeiten, das Beherrschen von Arbeitsgängen und das Lernen und Beherrschen von Arbeitsgängen und der völlige Verzicht auf sich selbst waren das Um und Auf. Dazu gehörte das Bescheidwissen, das Wissen um jedes Gerät, das Wissen um alle Aufbewahrungsorte, im Haus, in den Geräteschuppen um das Haus, auf dem Zulehen auf den Almen, das Im-Kopf-haben von Grundstückslagen, von Hängen, Nocken, Steinen, Pfützen, Gräben, das Im-Kopf-Haben von Viehbeständen, das Wissen um Viehverhalten, um Mensch-Vieh und um Vieh-Mensch-Verhalten.
Nur indem Holl gelernt hatte, in der ärgsten Sommerhitze, Nachmittag für Nachmittag den übelsten Launen ausgesetzt, barfuß die schwierigsten Situationen zu meistern oder nicht zu meistern und dann noch zu meistern, war es ihm nun möglich, trotz Arbeit seine Welt mit etwas Licht zu beschicken.
Nur indem er sich bis um die Ohren mit Arbeit überzog, konnte er sich wenigstens bei Tag vor den gröbsten Zugriffen der Natur in Sicherheit bringen. Zwar hatte es vieler blutig gestoßener, aufgerissener Ohrläppchen, brennender Wangen, Hautabschürfungen, gehirnlähmenden Geschreis und anderer Unannehmlichkeiten bedurft, bis der Bauer ihn soweit hatte, aber nun Holl diese Hürden hinter sich, so daß er sich gegen die anderen Schikanen wenden konnte. Die Arbeit war seine Rückendeckung und Gesichtsmaske zugleich.\"
Die seit 1974 umlaufende Trendformel von der "neuen Subjektivität\" erscheint, von Innerhofer her betrachtet, in einem anderen Licht: der Rückbezug auf das Subjekt stellt sich nicht als Abkehr von der Politik dar, im Gegenteil. "Schöne Tage\", "Schattseite\" und "Die großen Wörter\", alle drei Romane autobiographisch bis in die letzten Details hinein, erweisen es (wie kaum ein anderes Werk der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur). Es geht nämlich, kaum anders als im traditionellen bürgerlichen Bildungsroman, um den Prozeß einer Subjekt-Werdung, allerdings unter den (veränderten) Bedingungen gegenwärtiger Gesellschaft und den entsprechenden Folgen dieser Bedingungen auf das, was sich als Subjekt begreifen, was sich (s)eine Subjektivität erarbeiten will.
|