7. März 1940 in Schönefeld (50km südlich von Berlin) als Alfred Willi Rudolf Dutschke
Vater: war vom ersten Kriegstag an im Krieg, geriet Anfang 1945 in russische Kriegsgefangenschaft wurde wegen Krankheit 1947 nach Hause entlassen (Unterernährung)
mit drei Jahren Umzug in die Kreisstadt Luckenwalde, dem Geburtsort der Mutter
Ende 1945 kommt es zur ersten Begegnung mit einem russischen Soldaten:
Die Mutter und er werden mit dem Fahrrad angehalten und der Soldat nimmt ihnen das Fahrrad des Vaters weg. Rudi erinnert sich später, dass die Augen des Soldaten freundlich schauten. Sie bekommen ein anderes Fahrrad, eins für Frauen mit Kindersitz.
1946 Einschulung in die Ernst-Moritz-Arndt Schule. Rudi ist Musterschüler und Rabauke zugleich. Für sein Lieblingsfach Geschichte lernt er, bis er alle Jahreszahlen von Schlachten, Kriegen und Königen auswendig kann. Für einen Streber ist er jedoch zu gesellig und frech. Er widerspricht der Meinung der Lehrer wenn er beim Lesen auf andere Argumente stößt. Einmal bezieht er mit seinem Banknachbarn Prügel weil sie einem Mädchen vor ihnen den Zopf abgeschnitten haben.
Rudi ist sehr ehrgeizig im Sport, es ist mehr als nur ein Hobby für ihn, nämlich ein Kräftemessen mit anderen. Als zehnjähriger heult er vor Wut wenn ihn jemand besiegt. Er ist athletisch gebaut, aber klein, hat die meiste Kraft in den Beinen. Er macht gezieltes Training in Dreisprung und Stabhochsprung und lebt sehr diszipliniert: Er raucht nicht und trinkt keinen Alkohol.
Am 17. Juni 1953 kommt es zu Unruhen in den Fabriken Ost-Berlins und vielen anderen Städten
Der Grund sind Erschießungen von Arbeitern, die Rote Armee beherrscht das Straßenbild. Überall Militärfahrzeuge und russische Soldaten in Kampfbereitschaft.
Die Augen der Soldaten sind nicht mehr die der antifaschistischen Front, sondern vielmehr die hemmenden und überspannten Augen einer Roten Armee, die sich gegen die DDR-Arbeiter und Werktätigen bewegen.
In der Kirchengemeinde Sankt Petri nimmt Rudi an Gemeindeabenden der > Jungen Gemeinde < mitwirkend teil und ergreift gelegentlich zu einem Thema in sachlicher Weise das Wort. Er ist offen im Gespräch, zuweilen auch kritisch. Er besitzt schon damals eine auffallende Begabung in gut formulierten Sätzen das zu sagen was er denkt oder sagen will.
Er tritt wie es üblich ist in die FDJ ein, ohne aber die richtige Überzeugung zu haben. Der Hauptgrund dafür ist, dass niemand sich je mit ihm in sachlicher Diskussion politisch auseinandersetzt.
1954 wechselt Rudi auf die Gerhard-Hauptmann Oberschule. Ein Mitschüler (Hans-Günter Bedurke) bringt eine Schreckschuß-Spielzeugpistole mit Knallplättchen mit, um den Mitschülern zu imponieren. Die Schulleitung empfindet dies als politische Provokation gegen den pazifistischen Geist des friedliebenden Arbeiter- und- Bauern- Staates DDR. Vier Jahre später hat sich die DDR zur Remilitarisierung entschlossen und ruft ihre männliche Jugend zu den Waffen. Bedurke ist jetzt der einzige Stolz der Schulleitung, denn nur er meldet sich zum Militär um eine scharfe Waffe zu tragen.
Am 4. 2. 1958 schickt Dutschke eine >Darstellung seiner Entwicklung< an den Direktor:
> Ich sah schon sehr früh die Schrecken des Krieges. Ich hörte, dass mein Onkel [...] in seinem Panzer ums Leben gekommen war. Die Benachrichtigung darüber sagte aus: >Gefallen für Führer und ReichSelbstverständlich ist der Dienst in der Nationalen Volksarmee freiwillig, der Schüler Rudi Dutschke muss sich aber klarmachen, was seine Haltung bedeutet. Dies ist nichts anderes als falschverstandener Pazifismus und als solcher eine nicht vertretbare gesellschaftlich inaktive Haltung<
Nun geht es um Rudis Zukunft und um seinen Berufswunsch Sportjournalist
Er fragt ob alle vergessen haben, was noch vor wenigen Jahren an dieser Schule gelehrt wurde. Er zitiert aus Schulbüchern aus denen er gelernt hat. Er spricht ruhig und abgewogen. Er bekennt sich zur Wiedervereinigung, bekennt sich zum Sozialismus, aber nicht zu dem Sozialismus wie er betrieben wird. Er ist nicht bereit in einer Armee zu dienen, die die Pflicht haben könnte auf eine andere deutsche Armee zu schießen.
Nach seiner Rede klatschen seine Mitschüler spontan Beifall.
Als Folge bekommt er auf seinem Abschlußzeugnis statt einer verdienten zwei eine drei als Gesamtnote. Die Worte des Schulleiters von der >inaktiven gesellschaftlichen Haltung< finden sich jetzt schwarz auf weiß im Zeugnis wieder. Damit ist vorerst die Chance zum ersehnten Studium an der Hochschule für Sportjournalistik in Leipzig vertan. Er beginnt deshalb eine Lehre zum Industriekaufmann, die er mit der Note >sehr gut< abschließt. Sein Betrieb schlägt ihn zum Studium vor. Voraussetzung ist jedoch ein zweijähriger freiwilliger Dienst in der NVA, was er ablehnt. Ein NVA-Offizier sagt, wenn er nicht zur NVA gehe, sei er für Adenauer. Und wenn er für Adenauer sei, flöge er innerhalb von drei Wochen von jedem Studienplatz den er eventuell erreichen sollte.
Nun entschließt er sich zu einem Studium in West-Berlin. Der Haken dabei ist, dass sein DDR-Abitur nicht anerkannt wird. Er kann aber mit einem einjährigen Kurs das Westabitur machen, den er noch im Sommer 1960 belegt. Er nimmt sich seine erste Studentenbude in West-Berlin.
Am 13. August 1961, dem Morgen nach dem Mauerbau, geht er zum ersten Mal aus politischer Empörung auf die Straße. Er ist vor der Mauer, seine Familie dahinter. Außerdem muss er sich nun entscheiden: BRD oder DDR. Noch am selben Tag meldet er sich im Notaufnahmelager und läßt sich als politischer Flüchtling registrieren. Daraufhin wird er verhört von Franzosen, Engländern, Amerikanern und dem Bundesnachrichtendienst.
Er und seine Freunde beschließen etwas zu unternehmen. Sie werfen in der Dämmerung einen Stapel Flugblätter über die Mauer und ein Seil mit einem am Ende befestigten ankerförmigen Haken. Sie ziehen mit Leibeskräften daran und wollen die Mauer einreißen. Es gelingt nicht und sie ziehen enttäuscht ab. Volkspolizisten sammeln die Flugblätter bei ihrem nächsten Kontrollgang ein.
Probleme bereiten ihm im Westen die Oberflächlichkeit der Menschen und die Brutalität des Klassenkampfes, die Entfremdung und die Sturheit der Menschen machen ihn zusätzlich betroffen.
Zu Marx hat er folgendes Verhältnis:
Der Marx den er als Zwangslektüre in der DDR kennenlernen musste stößt ihn ab. Der gleiche Marx fasziniert ihn, den er in eigener Arbeit und in seinem Soziologiestudium kennenlernt. Er kann jetzt lesen, beurteilen und kritisieren und muß nicht undiskutiert und ohne Widerspruch Dogmen schlucken.
Das Lesen ist für ihn mehr als nur Zuarbeit fürs Studium, es ist oft auch Material für die Auseinandersetzung mit Freunden. Man sieht ihn nie ohne Buch. Er liest sorgfältig, indem er im Buch unterstreicht und wichtige Sachen heraus schreibt. Das was Rosa Luxemburg in ihrer Schrift > Die russische Revolution< beschreibt, hat Rudi als Staatssozialismus am eigenen Leib erlebt. Er merkt es sich und zitiert es später immer wieder.
In den ersten Jahren seines Studiums ist Rudi so in seine Bücher versunken, dass er außer an der Aktion gegen den Mauerbau an politischen Veranstaltungen nicht teilnimmt.
Im Juni 1963 geraten Zehntausende Westberliner in den Straßen der Stadt und auf dem Schöneberger Rathausplatz vor Begeisterung außer Rand und Band: John F. Kennedy spricht zu den Bürgern.
Dutschke und sein Freund Bernd Rabehl jubeln ihm nicht zu. Sie schauen nur vom Balkon aus zu und stehen ihm und seinem Gerede von Freiheit mißtrauisch gegenüber. Sie teilen nicht den amerikanischen Traum aus Freiheit und Konsum den das halbe (das westliche) Berlin träumt.
Sie schließen sich einer neugegründeten Gruppe, der >Subversiven Aktion< an, die durch Diskussionen die westlichen Verhältnisse kennenlernen will. Sie alle üben Kritik an der Wohlstandsgesellschaft: Mitten im materiellen Wohlstand lebt das Leben nicht, sind die Menschen unfähig zum Genuß. Anstelle echter Befriedigung ihrer Träume, Wünsche und Lust lassen sie sich willig mit Ersatzangeboten aus Konsum und Illusionen abspeisen.
Die Subversive Aktion ist eine Gruppe Gleichgesinnter, die über Bücher diskutieren und dann und wann mal eine Aktion planen.
Wenn Rudi Dutschke spricht dann nicht unter zehn Minuten. Er spricht unter vier Augen genauso wie in Veranstaltungen vor fünfzig Leuten.
Er will zu Marx zurückkehren, zu einem Marx-Bild, unverdeckt und unverstümmelt von den ganzen Verstümmlungen, die Marx-Engels und Lenin in der Entwicklung des Staatsmarxismus mitgemacht hatten.
Wenn er spricht bleibt kein Auge trocken, da gibt es auch keinen Widerstand, es ist kaum einzuhaken.
Es ist leicht ihn zu ärgern weil er Ironie nie mitbekommt.
Frank Böckelmann aus der Subversiven Aktion:
>Er kam uns irgendwie unschuldig vor, und gleichzeitig war er stark. Das fasziniert. Das ist das Material aus dem Führerpersönlichkeiten geschmiedet werden.<
Dutschke ist ein begabter Eklektiker, einer der es versteht aus den verstreuten theoretischen Ideen anderer ein eigenes politisches Konzept zu gewinnen.
Die Gesellschaft aus der er kommt, preist sich selbst als den >ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden< und bietet dennoch keinen Raum für Sozialisten, die nur in einzelnen Fragen und nicht im Grundsatz mit der Staatsräson der DDR nicht übereinstimmen, zum Beispiel in der ablehnenden Haltung gegenüber dem Militärdienst.
In einem seiner ersten Aufsätze für die Zeitschrift >Anschlag< schreibt er unter anderem:
>Es gibt noch keinen Sozialismus auf der Erde; Der Sozialismus ist weiterhin eine reale Kategorie des Noch-Nicht-Seins, der durch den Kampf der revolutionären Kräfte in die gesellschaftliche Wirklichkeit gebracht werden muss. [...] Verteidigen die Sozialisten im eigenen Land das Land voller Mängel mit schönen Worten als Paradies, machen sie den Leuten keinen Appetit auf Sozialismus. Mit dieser Haltung arbeiten sie, wenn auch ungewollt, der antisozialistischen und antikommunistischen Propaganda der Herrschenden in die Hand<
Und weiter
>Dem nicht zu rechtfertigenden Terror der Stalinherrschaft lag keine [...] historische Notwendigkeit zu Grunde! [...] Die Diktatur des Proletariats bildet die Brücke zwischen der bürgerlichen und sozialistischen Gesellschaft. Ihrem Wesen nach ist sie somit zeitlich begrenzt... Sehr wesentliche Aufgabe des Staates, der die Diktatur ausübt, besteht darin, seine eigene Aufhebung und damit auch die Aufhebung der Diktatur vorzubereiten<
Er prangert an, dass Stalin den Ausnahmezustand der >Diktatur des Proletariats< nie zurückgenommen hat, sondern sie vielmehr zum Stützpfeiler seiner gesamten Innenpolitik gemacht hat.
Anfang 1964 lernt er die Amerikanerin Gretchen Klotz kennen. Sie sind kurz zusammen, doch dann denkt Rudi, dass sie seine revolutionäre Tätigkeit negativ beeinflussen würde und sagt sie soll gehen. Traurig geht sie zurück nach Amerika.
Je weniger er derzeit von der Arbeiterschaft im eigenen Land erwartet, desto mehr setzt er auf die unterdrückten Proletarier in den Ländern der dritten Welt. Er will den Zusammenhang zwischen deren Unterdrückung und dem Reichtum der westlichen Industrienationen bewußt machen
>Das hochindustrielle Mitteleuropa (West) konsumiert, produziert natürlich auch, weil die nichtentwickelten Länder bisher billige Rohstofflieferanten und Abnehmer von teuren Fertigwaren sind.<
Am 18. Dezember 1964 besucht der kongolesische Ministerpräsident Moise Tschombé West-Berlin. Von ihm ist bekannt, dass er an der Ermordung seines Vorgängers Patrice Lumumba\'s beteiligt war. Auch, dass er den Widerstand kongolesischer Bürger gewaltsam unterdrückt. Er ermöglicht außerdem die billige Ausbeutung der kongolesischen Rohstoffe.
Demokratisch korrekt rufen SDS, Argument-Club und lateinamerikanischer und afrikanischer Studentenbund und die Anschlag-Gruppe um Dutschke und Rabehl zur Schweigedemonstration auf.
Die Demonstranten stehen frierend am Ausgang des Flughafens, als bekannt wird, das man Tschombé durch einen anderen Ausgang geschleust hat.
Sie begreifen: Wer die Spielregeln des demokratischen Protests befolgt, den stecken sie in einen Sandkasten wie ein unmündiges Kind.
Es folgt ein Marsch zum Schöneberger Rathaus. Die Polizeiketten werden durchbrochen, indem die Demonstranten zu Spaziergängern werden, denen man ihre politische Meinung nicht ansieht.
Vor dem Rathaus fordern sie ein Gespräch mit Willy Brandt, der ihnen erklärt er müsse auch Besucher empfangen, mit deren Politik er selbst nicht übereinstimme. Brandt speist Tschombé danach in einer Viertelstunde ab.
1965 werden Dutschke, Rabehl und einige weitere Genossen der >AnschlagVietnamRevolutionäre Praxis auf lange Sicht< war in der Diskussion in München auf Ablehnung gestoßen. Neben politischen Differenzen hatte es in München auch persönliche Angriffe gegeben. Rudi soll geheime Briefe geschrieben haben.
Als Antwort schreibt er einen Brief an die Münchener Gruppe:
>Wenn nicht einmal wir mit unserem hohen Anspruch in unserer Gruppe fähig sind, etwas vom emanzipierten Geist der Solidarität und Kameradschaft in unseren gemeinsamen Arbeit zu realisieren, so unterscheiden wir uns von den von uns Bekämpften nur noch verbal, das heißt in keinster Weise. [...] Es gab keine >secretAnschlag-Gruppe im SDSAnschlag-Gruppe< oder SDS. Die Genossen zensieren >im SDS< heraus. Damit bringen sie sich in eine peinliche Lage: Formal sind sie im Recht, und das setzen sie mit einem Filzstift-Strich durch. Inhaltlich distanzieren sie sich jedoch damit von einer Aktion, die sie eigentlich gutheißen müssen. Das gibt Ärger im Verband.
Gretchen ist jetzt oft bei Rudi in Berlin. Sie ist sehr in ihn verliebt und zeigt das auch. Rudi dagegen verhält sich Gretchen gegenüber spröde, jedenfalls solange andere dabei sind. Demonstrationsauflagen der Polizei zu durchbrechen fällt ihm leichter als der Verstoß gegen den protestantischen Moralkodex der Mutter Dutschke.
Im Mai 1965 braucht der Mathematik Student Salomon Espinoza aus Peru dringend Hilfe. Ihm droht die Ausweisung durch die Westberliner Ausländerpolizei. Rudi besorgt ihm einen Rechtsbeistand: Horst Mahler. Der erwirkt eine Aufenthaltserlaubnis für Espinoza und in ihm wird ein alter SDS-Genosse wiedererweckt. Horst Mahler wird später Dutschkes Verteidiger vor Gericht und man sieht ihn wieder im SDS und bei politischen Aktionen.
Im September besucht der Professor und Philosoph Herbert Marcuse Berlin. Seine Kritik an der modernen westlichen Industriegesellschaft und am Sowjetmarxismus ist für Rudi Dutschke und seine Genossen ungebrochen aktuell.
1965 werden auch die Notstandsgesetze erlassen. Bundeskanzler Ludwig Erhardt spricht jetzt von einer \"Formierung der Gesellschaft\" In der Öffentlichkeit redet er nur sehr spärlich von diesem Vorhaben, innerhalb der CDU wird jedoch Klartext geredet: Wenn die BRD militärisch und außenpolitisch erstarken wolle, müßten erst einmal im Inneren alle vorhandenen Kräfte zusammengefaßt werden.
Er befindet, in der BRD gebe es zu viele untereinander mit ihren Einzelinteressen konkurrierende Gruppen mit jeweils zuviel Macht.
Im Klartext will die Regierung jede Opposition mundtot machen.
Im Februar 1966 leitet Rudi einen Arbeitskreis mit dem Titel >Formierte Gesellschaft< Inzwischen macht er nicht nur im Berliner SDS Eindruck. Er läßt sich aber zu keinem Amt in seinem Verband breitschlagen.
Seit dem 7. Februar fallen täglich amerikanische Bomben auf Nordvietnam. Eine Große Koalition aller wichtigen Tageszeitungen sorgt dafür, dass das Mitgefühl der Berliner in bündnistreue Bahnen gelenkt wird:
Es soll gespendet werden für die Angehörigen der in Vietnam gefallenen oder verwundeten Amerikaner. Denn die Berliner wüßten ja, in Vietnam verteidigten amerikanische Soldaten die Freiheit der Westberliner.
Kritik an der amerikanischen Kriegführung ist nach wie vor nur in der Uni zu hören. Rudi und seine Genossen spüren, dass ihre Kritik in einem Ghetto steckenbleibt.
Sie haben das inszenierte Mitleid der Berliner für die Amerikaner satt.
So entsteht der Plan eine Provokation zu starten, die so hart, so beleidigend ist, so berechnet auf Empörung, auf Widerspruch, daß nicht nur deutsche Politiker und Parteien, sondern die Amerikaner selbst sich angesprochen fühlen müssen
Auszug aus dem Plakattext:
> Erhardt und die Bonner Parteien unterstützen MORD
Mord durch Napalmbomben! Mord durch Giftgas! Mord durch Atombomben![...]
Wer es wagt sich aufzulehnen gegen Ausbeutung und Unterdrückung, wird von den Herrschenden mit Brutalität
niedergemacht.
Die Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas kämpfen gegen Hunger, Tod und Entmenschlichung. [...] Die Antwort
der Kapitalisten ist Krieg. [...] Mit Kriegswirtschaft wird die Konjunktur gesichert. [...] Jetzt bleibt den
Unterdrückten nur noch der Griff zur Waffe.
Für sie heißt Zukunft: REVOLUTION! Wir sollen den Herrschenden beim Völkermord helfen [...]
Wie lange noch lassen wir es zu, dass in unserem Namen gemordet wird?
AMIS RAUS AUS VIETNAM <
Man trifft sich in Privatwohnungen. Die anderen im SDS sollen von der Sache nichts mitbekommen. Es werden Gruppen gebildet und in Stadtbezirke aufgeteilt. Gretchen soll den Polizeifunk abhören. Alle Beteiligten haben echte Guerillagefühle.
In der Nacht zum vierten Februar ziehen sie los und kleben die Plakate mitten auf andere an Litfaßsäulen, Verteilerkästen und Hauswände. Sie benehmen sich dabei auffällig und schlicht und einfach tolpatschig. Fünf von ihnen werden festgenommen. Bei 60 - 100 geklebten Plakaten eine peinliche Pleite. Aber die Provokation gelingt: Am morgen des 5. Februar sind die Berliner Zeitungen voll mit Berichten über die Aktion. Ihre Parolen bekommen einen neuen Namen: antiamerikanisch.
Die Aktion führt erneut zu Ärger im SDS. Er wird dafür verantwortlich gemacht obwohl er sie nicht gebilligt hatte. Distanzieren kann man sich nicht, da auf den Plakaten die Meinung der gesamten Mitglieder des Verbandes steht. Nach außen hin muss Solidarität demonstriert werden, verbandsintern steht aber Streit an.
Am selben Tag ist die angekündigte Vietnam-Demonstration der Berliner Studentenverbände, zu der zweieinhalbtausend Leute kommen. Kaum ist sie beendet, machen sich ein paar hundert Leute auf dem Weg zum Amerika-Haus und starten einen Sitzstreik. Dass Sitzstreiks eine friedliche Sache sind, sieht jeder. Wer einfach nur dasitzt, bedroht niemanden. Dennoch ist so ein Pulk von Leuten unübersehbar. Widerstand, gewaltfrei.
Über einem lauter drohende Gewalt in Bewegung, während man selbst freiwillig festgenagelt am Boden kauert und den Kopf ganz in den Nacken legen muss, um denen da oben in die Augen zu sehen.
Gegenperspektive: Erst drei Lautsprecherdurchsagen: >Hier ist die Polizei! Räumen sie die Fahrbahn sofort. Zehn Minuten nach Nichtbefolgung dieser Durchsage kommen Zwangsmittel zum Einsatz.< Abwarten. Dann, nicht über Lautsprecher, nur an die Beamten das Kommando: Knüppel frei. Von oben zuhauen dann hauen die schon ab. In kurzer Zeit ist die Demonstration auseinandergeprügelt. Viele kommen blutend oder mit blauen Flecken nach Hause.
Auf einer CDU-Kundgebung werden die Bürger aufgeputscht. Es wird gesagt, die Demonstranten gefährdeten ihre Freiheit. Einige laufen zum Bahnhof Zoo. Sie stürzen sich auf ein paar Jugendliche mit längeren Haaren und lässiger Kleidung, packen sie im Polizeigriff an den Haaren und zerren sie zum Fahrkartenschalter der S-Bahn. Sie zwingen ihre Opfer sich Fahrkarten nach Ost-Berlin zu kaufen und schubsen sie in einen Zug Richtung Friedrichsstrasse. Sie warten bis der Zug abfährt. Teufelsaustreibung liegt in der Luft.
Nun will die Fraktion um Dutschke und Rabehl nicht mehr länger warten, sondern aktiv in die Verhältnisse eingreifen. Etwas praktisch zu tun, mehr zu tun als sachlich und geduldig zu informieren, zu diskutieren, an die Vernunft zu appellieren - das erscheint ihnen als Hebel, mit dem die versteinerten politischen Verhältnisse zum Tanzen zu bringen seien. Natürlich wollen sie nicht irgend etwas tun.
Rudi wird in den folgenden Tagen ein beachteter Agitator innerhalb des SDS. Ohne alle Genossen auf seine Seite ziehen zu können, hat er ein offenes Forum im ganzen Verband für Ideen, die unter Sozialisten ketzerisch sind. Er setzt immer mehr die Politik durch, deren Konzept außerhalb, in kleinen Zirkeln, wie der Subversiven Aktion, erdacht und diskutiert worden ist. Er sagt, dass er als revolutionärer Sozialist nicht abwarten kann und darf, bis die Partei oder die Klasse zum Handeln ruft.
Im März 1966 heiraten Gretchen und Dutschke nach vielen Überlegungen. Ideologisch ist es falsch, es ist aber praktisch. Erstens können sie so an Geld kommen, zweitens wissen sie nicht wie sie ihren Eltern erzählen sollen, dass sie nicht heiraten möchten. Gretchens Eltern bezahlen die Hochzeit. Die Predigt schreiben sie selbst, in allen Sprachen, von denen sie auch nur ein bißchen wissen. Dafür stellen sie Zitate aus der Bibel, aus Marx und eigenen Texten zusammen. Ihr Freund Thomas Ehleiter fungiert als eine Art Pfarrer. Er trägt das vor was sie wollen, formell und schön. Das alles geschieht in einer Bierkneipe im Tegeler Weg in Charlottenburg. Sie ist ein bißchen verfallen, aber das fällt nicht so auf wegen der Dunkelheit. Anwesend ist ein internationales Publikum, also die Freunde aus Bolivien, aus Kolumbien, Puerto Rico, Kuba. Am späten Abend kommen einige, die Musik machen. Zu essen bekommt jeder ein halbes Hühnchen.
Am 1. Mai 1966 besucht Dutschke Georg Lukács, einen Theoretiker und Politiker aus der ungarischen Arbeiterbewegung. Dutschke führte in der Vergangenheit immer wieder dessen frühe politische Schriften zur Rechtfertigung seiner Position an. In seinem Tagebuch bekennt er >kindlich aufgeregt< gewesen zu sein. Dutschke ist aber sehr von Lukács Auskünften enttäuscht. Er verteidigt jedoch weiterhin die Positionen des jungen Lukács.
Mitte Juni 1966 findet ein wichtiges Treffen in Bayern am Kochelsee statt. Rudi kommt einige Tage später, weil seine Eltern ihn besucht hatten. Das gefällt der Gruppe nicht: Wegen den Eltern, Repräsentanten der bürgerlichen Autorität, die man bekämpfen will, darf niemand zu einem so wichtigen Treffen zu spät kommen.
Bei diesem Treffen wird das erste Mal von Kommuneplänen gesprochen. Manche sagen später Rudi sei sofort von diesen Plänen begeistert gewesen, Bernd Rabehl jedoch spricht von Skepsis auf Rudis Seite. Gretchen und Rudi beteiligen sich nicht an einer Kommunegruppe.
Einer der späteren Kommunarden, Ulrich Enzensberger, meint, dass Rudi allein schon vom Lebensgefühl her auch in keine solche Gruppe paßt: Er ist ein Fremdkörper, hat eine sehr kräftige, überhaupt keine pessimistische Ausstrahlung. Er hat sich unter Kommune immer etwas Politischeres vorgestellt, im engeren Sinne Politischeres.
Zusammen halten die Kommunarden und Rudi Dutschke gemeinsame Aktionen:
Ende Juni wird ein ganz besonderer Film angekündigt: Die Publikumswerbung verspricht den Zuschauern ein schaurig gruseliges Sittengemälde aus Afrika, einen Film, der den schwarzen Mann so zeige, wie er sei: animalisch, primitiv, grausam, triebhaft. Jeder Schlüssellochphantasie werde etwas geboten. Er biete bebilderte Menschheitswahrheiten.
Für die Kommunegruppe scheint die weitere Entwicklung absehbar. Der SDS und andere Organisationen würden Flugblätter und eine Protestaktion gegen diesen Film organisieren, seine Absetzung fordern und dann wieder nach Hause gehen. Die Zuschauer würden in Massen ins Kino strömen und der Film würde ein Kassenerfolg werden.
Also wollen sie anderes vorgehen:
Sie füllen ein scheußliches, stinkendes Zeug in Spritzen und stoßen es in die Sesselpolster des Kinos. Sie schneiden die Polster teilweise mit Messern auf. Außerdem werden mitgebrachte Mäuse freigelassen. Dies ist die erste geplante, gezielte Sachbeschädigung. Ihnen geht es darum, das Kino so kaputtzumachen, dass man es tagelang nicht benutzen kann.
Bis zum September 1966 kennen Rudi außerhalb des SDS nur wenige. Doch dann spricht er auf einer Delegiertenkonferenz in Frankfurt. Jedesmal wenn er ans Rednerpult tritt, wird es still unter den Delegierten. Wie Peitschenschläge fahren seine Thesen auf die Zuhörer nieder. Er hat das Zeug zum Demagogen. Er ist entdeckt. Er ist gut für Farbe in Berichten. Ihn muss man sich näher anschauen.
Auf einer Großveranstaltung in Neukölln sagt er, dass die Gewalt von unten herauf neu organisiert werden muss und zitiert dazu Rosa Luxemburg.
Zurück zu Vietnam:
Die deutschen Fernsehzuschauer sehen seit Monaten das Gleiche. In der Gleichförmigkeit der Berichte fällt die Eskalation des Krieges kaum auf. Wer jeden Tag sein Kind sieht, bemerkt den Wachstum nicht.
Tatsache ist: Mehr Soldaten, mehr Geld, mehr Bombenflüge!
Aber nur wenige Bürger begreifen das durch die Ferne des Krieges, der Abstumpfung, der Gewöhnung an eine amerikafreundliche Berichterstattung der Medien.
Die Aktionen in der Uni scheinen schon ausgereizt und werden mehr und mehr zum Bumerang
Bei einer Veranstaltung des RCDS, wo der südvietnamesische Botschafter spricht, stürmt Rudi auf das Podium. Auf Englisch formuliert er seine Meinung. Er wird vom Beifall der Zuhörer begrüßt.
Das Presseecho der Aktion ist miserabel. Bis in jede Provinzzeitung dringt die Nachricht, der Botschafter sei niedergeschrieen worden, aber kaum ein Bericht geht auf die Argumente der Auseinandersetzung ein. Es wird ein Disziplinarverfahren gegen Rudi eingeleitet
Also bleibt nur noch das Mittel der Straßendemonstration, um die Öffentlichkeit auch ohne Zeitungen und andere Medien zu informieren.
Am 10. Dezember ist weltweit >Tag der MenschenrechteBewaffneten Kampf< sind am Abend der Ermordung Benno Ohnesorgs geboren worden, in der Angst und auf der Flucht.
Der Senat verhängt ein allgemeines Demonstrationsverbot, so daß die Universität das Rathaus der Revolte wird.
Jeden Abend sind die Studenten nun am Ku\'damm und bieten schüchtern ihre Flugblätter an. Nur wer von selbst stehen bleibt und mehr wissen will, wird in ein Gespräch verwickelt. Von der Straße kommen die Erfolgsmeldungen. Es werden immer mehr Studenten und nie zuvor hatte es das gegeben, daß Studenten in ein paar Tagen mühelos über 300 000 Flugblätter losschlagen konnten
Der 8. Juni ist der Tag des Gedenkens an Benno Ohnesorg. In einem der 200 Autos, die seinen Sarg in einem Autokorso durch die DDR nach Hannover begleiten, sitzt Rudi Dutschke.
Auf einem Kongreß rechnet er die Chancen vor, die er für die rebellierenden Studenten sieht:
Er sagt, dass die Mobilisierung der Massenmedien gegen die Studenten unvermeidbar ist, aber auch relativ unwichtig
Er sagt auch, dass die Spielregeln dieser unvernünftigen Demokratie nicht ihre Spielregeln sind.
Er schlägt vor, eine Demonstration gegen das Demonstrationsverbot anzumelden, und, wenn sie nicht genehmigt wird, Kampfmaßnahmen zu beraten. Damit meint er eine passive Protest-Sitzstreik-Demonstration.
Der SDS rückt immer näher um Rudi zusammen.
Die Studenten des SDS beschließen einen Hungerstreik. Sie wollen in einer Kirche für 48 Stunden hungern. Sie werden jedoch nicht hineingelassen. Rudi kommt mit Hilfe des Pfarrers schließlich in die Kirche, steuert wie selbstverständlich zur Kanzel und >predigt< von da oben:
Hoffnungslos, beschämend, was in dieser Gesellschaft aus der Kirche geworden ist! Letzte Zuflucht der Entrechteten, das müsse die Kirche sein, und wenn sie es nicht mehr ist, wieder werden. Wenn hier jemand nichts zu suchen habe, dann die Herren Polizisten in Zivil. Das meint dann auch der Pfarrer. Die Genossen lassen sich auf den Holzbänken nieder.
Die Atmosphäre die Rudi verbreitet, ist den Mitgliedern der Kommune 1 nicht recht. Sie rächen sich auf ihre Weise: Fest überzeugt davon, daß zumindest Rudi nicht einen Bissen angerührt hatte, brachten sie die Nachricht in Umlauf: Rudi hat heimlich gefuttert.
Rudi wohnt in der Nähe des Hohenzollerndamms, in einer Nebenstraße, in einer wahnsinnig dreckigen Bude. Mit seinem Kommilitonen Gaston Salvatore übersetzt er Che Guevaras Schrift >Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam< ins Deutsche. In der Schrift heißt es, dass ein Volk ohne Haß über einen brutalen Feind nicht siegen kann. Für Feindesliebe, wie es Rudi gepredigt wurde, ist in diesen Worten kein Platz mehr. Für ihn steht fest, dass sich die unterdrückten Völker der dritten Welt nur mit Waffengewalt befreien können. Er veranlaßt mit dem SDS eine Geldsammlung: Waffen für den Vietcong. Das ist neu, gesammelt wurde bisher nur um rein humanitäre Hilfe zu leisten.
Nimmermüde und immer übermüdet zieht Rudi mit seinen handgekritzelten Redemanuskripten von Veranstaltung zu Veranstaltung, seine abgewetzte lederne Aktentasche unter dem Arm. Er versteht es, auf Zurufe, auf die Stimmung im Saal einzugehen.
Der äußere Druck läßt die bislang recht zerstrittenen SDS-Fraktionen zusammenrücken. Sie zerbrechen sich gemeinsam den Kopf, kommen jedoch nicht weiter. Den Rest des Tages spielen sie Fußball oder baden im See.
Am 21.November 1967 spricht das Gericht den Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras frei. Der eines Steinwurfs am selben Abend verdächtigte Student Fritz Teufel sitzt weiter in Untersuchungshaft. Dies ist eine deutliche Kriegserklärung für die Studenten von Berlin. Aber die neue Führung der Stadt bewältigt die Ereignisse so unbeirrt, als sei nichts geschehen. Als polizeiliches Problem nimmt man die Studenten und ihre Vertreter jetzt ernst. Besonders Rudi Dutschke.
Viele Genossen, besonders Gaston Salvatore, suchen Dutschkes Nähe, teilen seine Pläne und Ansichten
Weihnachtstag 1967:
Die Studenten gehen in die Mitternachtsmesse mit Transparenten.
Aus einigen Sitzreihen drängeln sich kräftige Familienväter heraus. Alle stürzen sich auf die Demonstranten, entreißen ihnen die Plakate und boxen sie unsanft schnell den Weg hinaus, den sie gekommen sind. Auch Rudi ist in der Messe. Er weiß von der Aktion ist aber nicht beteiligt. Er ist nicht der Typ, bei so etwas tatenlos zuzusehen. Er steht auf, eilt mit ein paar Schritten zur Kanzel und ruft mitten in den Tumult: >Liebe Brüder und Schwestern< Doch schon nach diesen Worten reißen ihn andere Gottesdienstbesucher von der Kanzel und drängen ihn ebenfalls Richtung Ausgang.
Am 12. Januar 1968 wird Rudis und Gretchens erster Sohn, Hosea Che, geboren.
Rudi steckt seine gesamte Kraft in ein einziges Projekt: den Kongreß der Vietnamkriegsgegner. Solidarität mit dem um seine Freiheit kämpfenden, vietnamesischen Volk soll jetzt auch in Westeuropa heißen: Angriff.
Der Senat lehnt den Genehmigungsantrag für die Vietnam-Demonstration am Ende des Kongresses ab.
Rudi Dutschke erklärt vor der Presse, die Demonstration werde auf jeden Fall stattfinden, ob genehmigt oder nicht. Nahezu die gesamte politisch aktive Studentenschaft steht hinter der geplanten Demonstration. Kurz vor Beginn wird das Verbot außer Kraft gesetzt, mit der Bedingung, dass die amerikanischen Wohnviertel nicht berührt werden. Nach den kämpferischen Reden geht die Demonstration friedlich auseinander.
Am Ku\'damm kommt es zu einer zweiten Demonstration, weder beantragt, noch genehmigt. Die Demonstranten schreien >Dutschke raus aus West-Berlin< oder >Nieder mit dem roten Mob< Bei dieser Demonstration zieht sich der 27-jährige Lutz Dieter Mende eine Schädelprellung, eine Rißwunde an der linken Augenbraue, Prellungen am ganzen Körper, Verstauchung des linken Fußgelenks und eine vorübergehende Bewegungsunfähigkeit der rechten Gesichtshälfte zu. Er ist zufällig am Ku\'damm und er hat eine gewisse, wenn auch sehr entfernte Ähnlichkeit mit Rudi Dutschke.
Rudi will nach Amerika gehen um seine Doktorarbeit dort in Ruhe zu schreiben. Gretchen drängt ihn immer mehr dazu West-Berlin zu verlassen, denn sie bekommt Drohbriefe und Drohanrufe.
Zuerst allerdings ist er Gast in der CSSR. Dort rechnet er mit dem Stalinismus ab:
>Die kommunistischen Parteien in Osteuropa haben in den letzten Jahren dieses Prinzip - Der Erzieher muß erzogen werden- konterrevolutionär mißbraucht.
Der Stalinismus ist die Herrschaft einer zentralen, monopolistischen Bürokratie, die unnotwendig und zusätzlich ist. [...] Das Maß der Freiheit wurde nicht bestimmt durch die Bewußtheit der Menschen selbst, sondern wurde bestimmt durch bürokratische Entscheidungen von oben, und jeder Ruf nach individueller und gesellschaftlicher Freiheit wurde denunziert als Konterrevolution.<
In der ersten Aprilwoche werden in einem Westberliner Arbeiterviertel Leute befragt, was sie von Rudi Dutschke halten. Dabei raus kommen Antworten wie: >Verbrennen müßte man so was! Vergasen! Das wäre richtig!Abschaum der Menschheit, Randalierer ersten Grades< oder >Den soll man in\'n Sack stecken und über die Mauer schmeißenNa, die Bedrohung ist nicht in der Stadt, die ist international. Aber ich fühle mich persönlich überhaupt nicht bedroht. [...] Es gibt pogromartige Ansätze, aber die sind ganz normal [...] Das ist nicht gefährlich; das ist ein ohnmächtiger Protest. Es zeigt bloß, wie sehr ein Teil der Berliner Bevölkerung manipulierbar und mobilisierbar ist. Aber nicht mobilisierbar mehr in einem kämpferischen Sinne, nicht in einem ideologischen und organisatorischen Sinne, sondern eigentlich nur noch als Appendix, als Anhängsel des Staatsapparats.<
>Haben sie nicht manchmal Angst, dass ihnen einer übern Kopf schlägt?<
>Nicht Angst. Das kann passieren; aber Freunde passen mit auf. Normalerweise fahre ich nicht allein rum. Es kann natürlich irgendein Neurotiker oder Wahnsinniger mal \'ne Kurzschlußhandlung durchführen.<
Am Ende will Dutschke eine Botschaft loswerden. Er ist Führer einer antiautoritären, also gegen personalisierte Führer gerichteten Bewegung. Er will es nicht mehr sein. Er will diese Rolle aufgeben.
> Die anti-autoritäre Bewegung wurde identisch gesetzt mit Dutschke und personalisiert im fast totalen Sinne [...] Wenn jetzt hier von den Herrschenden gesagt wird, ohne Dutschke ist die Bewegung tot, so habt ihr zu beweisen, und in der letzten Zeit wurde es schon bewiesen, dass die Bewegung nicht steht mit Personen, sondern dass sie getragen wird von Menschen, die sich im Prozeß der Auseinandersetzung zu neuen Menschen herausbilden. [...] Die fähig sind, an der Basis die Widersprüche zu vertiefen. [...]<
An die Adresse von Gretchens Vater in Chicago ist schon Gepäck vorausgeschickt. Dem Prozeß gegen ihn und Gaston wegen des Sturms auf das Moabiter Gericht will er sich noch stellen.
In den USA wird Martin Luther King ermordet. In München hat der junge Arbeiter Josef Erwin Bachmann Zeitungsausschnitte über Rudi Dutschke in Berlin gesammelt. Am 8. April kündigt er seinen Job, den er erst am Anfang der Woche angetreten hat. Er will nach Berlin gehen. Den Kollegen sagt er: Paßt auf, ihr werdet noch von mir hören.
Am 10. April 1968 um 21.52 Uhr fährt er los. Am 11. April um 16.39 Uhr feuert er drei Kugeln auf Rudi Dutschke.
Bachmann vor Gericht:
>Ich ging über die Straße und bin auf ihn zugegangen und hab gefragt, ob er Rudi Dutschke ist. [...] Dann sagte ich, du dreckiges Kommunistenschwein. Dutschke kam auf mich zu, und ich zog den Revolver und schoß den ersten Schuß. [...] Ich war so im Haß, ich hatte so eine Wut.<
Nur kurz liegt Rudi blutend und regungslos auf der Fahrbahn des Kurfürstendamms. Bachmann läuft hastig in Richtung Bahnhof Zoo, da wacht Rudi aus seiner kurzen Bewußtlosigkeit auf, kommt taumelnd auf die Füße, fährt sich mit den Händen durch das Gesicht, besieht seine blutigen Hände und bricht nach wenigen Schritten Richtung SDS-Zentrum wieder zusammen. Einige erzählen, wie sie ihn schreien hörten nach den Schüssen, schreien nach Vater und Mutter, daß er: Mörder! gerufen hat und auch: Ich muß zum Frisör, und auch wirre und unzusammenhängende Worte.
Bachmann hat sich unterdessen in einem Keller verbarrikadiert. Er schießt blindlings auf die Polizisten, die inzwischen eingetroffen sind. Gleichzeitig schluckt er etwa zwanzig Schlaftabletten. Es dauert fast eine Stunde bis die Polizisten ihn festnehmen können.
Die Ärzte im Westend-Krankenhaus haben bereits mit der Operation an Rudi Dutschke begonnen. Die erste Operation gilt der Entfernung eines Projektils, das den Schädel an der linken Seite oberhalb der Schläfe durchschlagen und das frontoperiale Hirngewebe leicht beschädigt hat. Zu einem in solchen Fällen auftretenden, höchst bedrohlichen Hirnödem kommt es nicht.
Ratlose Stimmung im SDS-Zentrum. Jemand berichtet : Rudi ist tot. Alle sind gelähmt. Christian Semler steht an der Fensterbank und kritzelt eine Presseinformation auf einen Zettel: Wenn auch der Attentäter noch nicht identifiziert sei, so stehe doch fest, daß der Hauptschuldige für diesen Mordanschlag Springer sei, denn seine Zeitungen schafften erst die atmosphärischen Voraussetzungen für eine solche Tat.
Um 18.30 Uhr verbreitet sich die Nachricht, daß Rudi Dutschke lebt und seine Chancen 50:50 stehen.
Jetzt fordern die Studenten: die Enteignung Springers, den Rücktritt des gesamten Senats, die Demokratisierung der Rundfunkanstalten und täglich eine Stunde Sendezeit für die außerparlamentarische Opposition.
Es folgt der Marsch zum Springer-Haus. Michael \"Bommi\" Baumann berichtet: >Auf dem Weg dahin haben wir im Amerikahaus die ganzen Scheiben eingeschmissen. Die Empörung über das Attentat an Rudi war inzwischen in ganz Deutschland so groß, und in allen Städten ist am selben Abend etwas passiert, da war so eine Stimmung voll Sympathie für Rudi, daß die Bullen gar nicht einschritten. Sie haben sich anders verhalten als sonst.<
Um 22.15 Uhr beginnt der zweite chirurgische Eingriff- die Entfernung des Projektils aus der rechten Wange Rudi Dutschkes. Dieses Geschoß ist bis zur Ohrspeicheldrüse vorgedrungen. Komplikationen treten nicht ein. Die OP dauert 90 Minuten.
In der Tagesschau geben sich jetzt auf einmal lauter Politiker empört über die Gewalt gegen Dutschke.
Bis etwa 23 Uhr haben die Demonstranten vor dem Springer-Haus nur die Parolen und höchstens Steine zur Hand. Dann kommt Peter Urbach mit einem guten Dutzend zündfertiger Molotow-Cocktails. In dieser Situation findet er für die Mollis dankbare Abnehmer. Urbach leistet ganze Arbeit für seinen obersten Chef, den Innensenator Kurt Neubauer. Für ihn, den Dienstherrn des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz, arbeitete der erfolgreich in die linke Szene eingeschleuste Agent Urbach schon seit Monaten. An die Dienststelle seines Chefs gab er regelmäßig Informationen aus der Szene und an die Leute aus der Szene gibt er am Abend des 11. April 1968 Mollis und hilft mit Rat und Tat, Springers Zeitungswagen anzustecken.
Im SDS wird jetzt gewarnt: >Man darf der Radikalität von rechts die Radikalität von links nicht opfern. Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Menschen sind nicht gleichzusetzen. Wir müssen immer wieder demonstrieren, dass es uns hier darum geht, eine Manipulationsmaschine zu zerstören, daß wir nicht den Fehler wiederholen werden, den wir nach dem 2. Juni gemacht haben, nämlich zu fordern: Enteignet Springer! und nichts dafür zu tun.<
Bis zum Ostermontag überstürzen sich Aktionen und Straßenschlachten.
Seit Ostersamstag ist Rudi außer Lebensgefahr. Nach und nach wird Gretchen klar, was die Kugel im Kopf angerichtet hat. Er weiß die meisten Dinge nicht zu benennen. Nur ein paar Worte sind da, aber ganz wenige. Ganz am Anfang ist er noch nicht verzweifelt, weil er noch nicht erfaßt hat, was eigentlich mit ihm los ist. Als er dann merkt, was er nicht mehr weiß, ist er sehr verzweifelt. Rudi will kaum jemanden sehen, auch von den Genossen nicht. Er will nicht, daß sie merken, wie schlimm es um ihn steht.
Er kann noch lesen, allerdings fällt es ihm schwer fehlerfrei zu lesen. Er ist auf beiden Augen zur rechten Seite hin halb unfähig zu sehen. Es kann also passieren, daß er eine Zeile liest, das letzte Wort der Zeile aber übersieht, weil er meint, die Zeile sei schon zu Ende.
Rudi und sein Freund Thomas Ehleiter fangen an zu lernen, so ähnlich wie ein Kind anfängt zu lernen. Er lernt die Wörter am schnellsten, die dazu dienen, den Menschen mitzuteilen, was er selbst, was die Menschen unter einem menschlichen Leben verstehen sollen. Er lernt sehr rasch die Worte Aufklärung, Liebe, Freundschaft, Zärtlichkeit, Kritik, Revolution, Befreiung, Aufhebung der Unterdrückung und ähnliche Vokabeln. Für Worte wie Geld oder Strumpf, Schuh, Unterhose oder Hose hat er überhaupt keine Motivation.
Vier Wochen nach dem Attentat geht das Sprechen noch sehr mühsam. Beim Sprachtraining formuliert er eine Selbsteinschätzung:
>Ich habe Fehler gemacht. Ich bin noch zu jung, um Politiker zu werden. Ich bin 28 Jahre alt. Ich muß mich noch mal zurückziehen um an mir zu arbeiten.<
Was Rudi am notwendigsten braucht, kann ihm am allerschwersten garantiert werden: Ruhe. Er muß fort von Berlin. Er begreift, niemand in dieser Stadt wird ihm Schonung gönnen, seine Feinde nicht, seine Genossen nicht und schon gar nicht die Journalisten, die Neugierigen, die Gaffer.
Er geht ins Sanatorium Münchenbuchsee im Schweizer Kanton Bern. Seine Fortschritte im Sprechen, Schreiben und Lesen werden von Tag zu Tag deutlicher. Die Möglichkeit, intellektuell und rhetorisch wieder nahezu der alte zu werden, lassen ihn Mut schöpfen. Jetzt wird er schon wieder neugierig darauf, Freunde und Genossen zu treffen und mit ihnen zu diskutieren.
Neben der Fortsetzung des Sprach- und Lesetrainings traut sich Dutschke an das Vorwort zu der Sammlung von Briefen , die an ihn und Gretchen nach dem Attentat geschickt worden waren. Es ist seine erste Arbeit die nach dem Attentat veröffentlicht wurde.
Die Schüsse haben Dutschkes Position härter gemacht, an seinem auf gesellschaftliche Strukturen gerichteten Denken jedoch nichts geändert.
Er weiß über Josef Bachmann nichts anderes zu berichten, als daß auch er ein Opfer ist:
> Er ist nicht im wesentlichen Schuld an dem Attentat. [...] Bachmann und seine Klasse wird seit Jahrzehnten durch das herrschende System unterdrückt. Warum sind nur 5% lohnabhängiger junger Arbeiter in der Universität zu finden, warum noch weniger junge Bauern usw.?
Bachmann mußte kaum ausgebildet sein, täglich wurde er von Springer- und NPD-Zeitungen, falschen Rundfunk- und Fernsehberichten bestimmt. [...]
Nie wird die Verdrängung der faschistoiden Elemente, die sogenannte \"Ruhe, Ordnung und Sicherheit\", so sichtbar wie vor, in und nach dem Attentat.<
Es scheint, als hätten die Schüsse auf ihn jene Skrupel weggewischt, die er noch im März \'68 hatte. Nirgendwo bekennt er sich so scharf zur Anwendung von Gewalt als politischem Mittel wie in diesem Vorwort:
> Unsere Alternative zu der herrschenden Gewalt ist die sich steigernde Gegengewalt. Oder sollen wir uns weiterhin ununterbrochen kaputtmachen lassen?<
Der selbstgesetzte Druck, so schnell wie möglich wieder in die Politik einzugreifen, hat ihn zu diesem Vorwort veranlaßt.
Nach Deutschland wollen sie nicht zurück, aus Angst vor einem neuen Attentat, aus Angst auch davor, daß Rudi zu früh zurückgerissen würde in die politische Arbeit, der er noch nicht wieder gewachsen ist.
Der amerikanische Abgeordnete Robert Wilson startet eine Kampagne \"Haltet den roten Rudi Dutschke draußen\" als er von Rudis Plänen hört, sein Studium bei Herbert Marcuse an der Universität San Diego fortzuführen.
Die kanadischen Behörden weisen seinen Antrag auf ein Visum ebenfalls ab.
Das niederländische Justizministerium teilt mit, Rudi werde von nun an als \"unerwünschter Ausländer\" betrachtet, die Grenzpolizei sei angewiesen, ihn nicht einreisen zu lassen. Auch in Belgien ist er eine \"persona non grata\"
Rudi macht die Erfahrung, daß sein Ruf als verrufener Bürgerschreck nicht einmal gestreift worden war.
Rudi hat wie die anderen Genossen nie nach einer harten Bestrafung Josef Bachmanns gerufen.
Er schreibt ihm einen Brief, in dem es unter anderem heißt:
>Du wolltest mich fertig machen. Aber auch, wenn du es geschafft hättest, hätten die herrschenden Cliquen von Kiesinger bis zu Springer, von Barzel bis zu Thadden Dich fertiggemacht. Ich mache dir einen Vorschlag: Laß dich nicht angreifen, greife die herrschenden Cliquen an: Warum haben sie Dich zu einem bisher so beschissenen Leben verdammt? [...]
Ich habe viele Jahre auf dem Lande und in Fabriken gearbeitet. Viele von uns, die die Universität abschließen, gehen jetzt als Gruppen in den Produktionsprozeß, um die Revolution vorzubereiten. Also schieß nicht auf uns, kämpfe für dich und deine Klasse. Höre auf mit den Selbstmordversuchen, der antiautoritäre Sozialismus steht auch noch für dich da.<
Am 9. Dezember 1968 trifft Rudi ein erster epilepsieartiger Anfall.
Die ersten sechs Monate nach der Gehirn-OP waren ohne Nachwirkungen der Verletzung verlaufen- abgesehen von den bekannten Beeinträchtigungen des Seh- und Sprechvermögens. Die Genesung lief bilderbuchartig ab.
Gleich am nächsten Morgen kurz nach dem Aufstehen erleidet er zum zweitenmal einen Anfall. Gretchen findet ihn auf dem Fußboden liegend.
Seine Gedanken kreisen zu dieser Zeit stark um Bachmanns Schicksal. Er schreibt einen weiteren Brief:
>Ich konnte nach der Schießerei nicht einmal lesen, mußte alles neu lernen, bin immer noch dabei. Ich bin ihnen wirklich nicht böse. [...]
Daß ich gegen die Stalinisten im Osten und die Kapitalisten im Westen kämpfe, haben sie ja wohl inzwischen gehört [...]
Ich war damals zu Hause schon gegen die bestehende Ordnung der Stalinisten in der DDR. Weil ich in der Oberschule rebellierte, durfte ich nicht studieren. Der Stalinismus und Faschismus [...] arbeiten zusammen. [...] Ich glaube nicht, daß sie Faschist bleiben oder überhaupt sind.
Selbstmord ist feige, besonders wenn man ein langes Leben vor sich hat. Mit Sicherheit werden Sie in nicht allzu langer Zeit ein freies und neues Leben beginnen können.<
Die Antwort Bachmanns:
>Ich möchte mich auch für ihren zweiten Brief bedanken, den ich mit großer Freude erhalten habe. [...]
Ich möchte nochmals mein Bedauern über das aussprechen, was ich ihnen angetan habe. Ich kann nur hoffen, daß sie in ihrer Zukunft und ihrer weiteren Laufbahn [...] keine ernstlichen körperlichen Schäden zurückbehalten werden. [...]
Ich war oft in Ost-Berlin und habe sehr viel Kontakt mit der Jugend aufgenommen. Wenn man diese jungen Leute sprechen hört, dann ist es kein Wunder, daß sich mein Haß gegen alles richtet, was bolschewistisch und kommunistisch ist [...]
Ich habe von ihnen eine völlig verkehrte Auffassung gehabt. [...] Wenn ich sie richtig verstehe und mir ein Bild von ihnen erlauben darf, wollten sie und ihre Kommilitonen ein besseres System erreichen als das heutige[...]<
Bachmann hat begriffen, daß Dutschke kein Mann Ulbrichts ist. Er gesteht zu, daß Rudi und seine Genossen für eine bessere Welt kämpfen wollen und fragt doch gleichzeitig: warum demonstrieren und gegen was? Rudis Bezeichnungen der Mißstände, aber auch die Bezeichnungen eines besseren Zieles sind für Bachmann nichts weiter als leere Worthülsen. Dieser Brief hätte nachdenklich machen, alarmieren können. Aber weder Rudi noch seine Genossen in Berlin hat er aufgeschreckt.
Am 20. November wird Gretchens und Rudis zweites Kind geboren: Polly-Nicole.
In der Nacht vom 23. Auf den 24 Februar 1970 stülpt sich Josef Bachmann in seiner Zelle im Gefängnis Tegel eine Plastiktüte über den Kopf, verknotet sie fest am Hals und erstickt. Er hinterläßt keinen Abschiedsbrief.
Erich Fried ist zu Besuch bei Rudi als der die Nachricht von Bachmanns tot erfährt:
>Als Josef Bachmann tot war, habe ich Rudi das einzige Mal in wirklich aufgelöster Stimmung gesehen. Er hat geheult, lag auf der Nase und sagte, er hat alles falsch gemacht. Er hatte ihm doch erst Briefe geschrieben und ihn getröstet [...]
Vielleicht, sagte er, wenn er in Berlin geblieben wäre, und ihn regelmäßig besucht hätte, hätte er diesen Selbstmord doch verhindern können<
Am 3. Juni 1970 erteilt ihm die Universität von Cambridge offiziell die Zulassung als \"fulltime-research-student\". Rudi ist wieder Doktorand der Soziologie. Der Neubeginn ist hart erkämpft. Das Material und die Thesen die sich Rudi schon einmal vor dem Attentat erarbeitet hatte, waren von Grund auf neu erlesen und neu formuliert.
Am 8. Januar 1971 wird er ausgewiesen mit der Begründung:
>Wir glauben nicht, daß der Appellant bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine nennenswerte Gefährdung der nationalen Sicherheit dargestellt hat. Dessen ungeachtet (...) glauben wir, unter Beachtung aller Umstände dieses Falles, daß in der Fortdauer seines Aufenthaltes ohne Zweifel ein Risiko besteht.<
Es folgt ein Umzug nach Dänemark.
Im Juli 1972 kommt es zu einem Gespräch zwischen Bundespräsident Gustav Heinemann und Rudi Dutschke.
Heinemann entwirft ein Bild der politischen Verhältnisse in der BRD, das von tiefster Resignation durchsetzt ist. Dutschke versucht dagegenzuhalten.
Heinemann listet die Reihe seiner Enttäuschungen auf. Zuerst zerplatzte sein unbefangener Glaube an die Stunde Null. Er hatte erlebt, daß ein Bodenrechtsreformprogramm auf Druck der Westalliierten nicht beschlossen wurde. Dann das Scheitern seines Widerstandes gegen die Remilitarisierungspolitik Adenauers. Seiner Einschätzung nach sei die Außerparlamentarische Opposition der Studenten die erste, halbwegs erfolgreiche basisdemokratische Massenbewegung in der Geschichte der BRD gewesen.
Ein Satz Heinemanns bleibt dem Rebell der sechziger Jahre besonders im Ohr: > Ihr werdet wohl erst Häuser besetzen müssen, ehe wir ein anderes Mietrecht bekommen, denn demokratischere Uni-Strukturen gab es auch erst, nachdem ihr die Freie Universität besetzt hattet.<
1972 dürfen auch ehemalige \"Republikflüchtlinge\" wieder zu Besuch in die DDR einreisen. Von West-Berlin nutzt Rudi diese Gelegenheit, um seinen Vater und die Familien seiner Brüder in Luckenwalde und Potsdam zu besuchen.
Mitte Januar 1973 tritt er zum erstenmal seit dem Attentat vor fünf Jahren an die Öffentlichkeit. Er wird von 20 000 Demonstranten auf einer Kundgebung des \"Nationalen Vietnam-Komitees\" stürmisch gefeiert. Vor den Tausenden da unten zu sprechen ängstigt ihn nicht. Ärgerlich, aber eine Herausforderung ist es, als ihn der Versammlungsleiter auf dem Podium schon nach drei Minuten drängt, zum Ende seiner Rede zu kommen. Er steckt sein Manuskript weg und spricht den Rest der Zeit frei. Nachdenklich genießt er den Beifall für seine Rede.
Im Oktober 1973 wird die letzte Rate seines Stipendiums der Heinrich-Heine-Stiftung ausgezahlt. Die Familie braucht Geld zum Leben. Die Angst kehrt zurück.
Das Gefühl der Bedrohung wird immer schlimmer. Rudi ist unfähig, einen Gedanken an Arbeit zu fassen. Längst überwundene Sprachschwierigkeiten stellen sich wieder ein. Er traut sich kaum aus der Wohnung, hat Angst allein zu sein. Er hat immer eine waffenscheinfreie Gaspistole bei sich.
Es dauert Wochen bis er sich wieder beruhigt.
Am 18 November 1974 wird Holger Meins beerdigt. Er starb nach einem zweimonatigen Hungerstreik für menschenwürdige Haftbedingungen an Entkräftung in der JVA Wittlich.
>Holger, der Kampf geht weiter< sagt Rudi am Grab.
Politisch ist dieser Satz fatal, weil er den Eindruck erwecken kann, Rudi billige den Kampf, den die RAF und die Bewegung 2. Juni seit 1970 in der BRD und West-Berlin begonnen hat.
In seinem Leserbrief im Spiegel schreibt er jedoch:
>Der Kampf geht weiter, bedeutet für mich, daß der Kampf der Ausgebeuteten und Beleidigten um ihre soziale Befreiung die alleinige Grundlage unseres politischen Handelns als revolutionäre Sozialisten und Kommunisten ausmacht [...]
Der politische Kampf gegen die Isolationshaft hat einen klaren Sinn, darum unsere Solidarität. Die Ermordung eines antifaschistischen und sozialdemokratischen Kammer-Präsidenten ist aber als Mord in der reaktionären deutschen Tradition zu verstehen. Der Klassenkampf ist ein politischer Lernprozeß. Der Terror aber behindert jeglichen Lernprozeß der Unterdrückten und Beleidigten.[...]<
Dutschke weigert sich, die Kritik an den unmenschlichen Haftbedingungen der \"RAF-Gefangenen\" aufzugeben, nur weil er die Politik der RAF ablehnt.
Unmittelbar nach der Beerdigung von Holger Meins besucht er Jan-Carl Raspe im Gefängnis Köln-Ossendorf. >Zu Jan-Carl hatte ich meinen Sohn und dessen Freund mitgenommen, wollte dem Jan Raspe andere, ganz andere Gesichter zeigen. Sie kamen ins Gefängnis rein, aber nicht mit zu Jan-Carl<
Drei Jahre lang quält sich Rudi mit seiner Doktorarbeit herum.
Die antiautoritäre Studentenbewegung zerfällt. Der SDS löst sich im September selbst auf.
1977 schreibt Dutschke zurückblickend:
>Am allermeisten machte mir die Wendung so vieler SDS-ler meiner Generation zu schaffen. [...] Es quälte mich in den nächsten Jahren darum immer mehr die Frage, wie Sozialisten-Kommunisten demokratischen Typs zu Marxisten-Leninisten werden können.<
Dutschkes Dissertation legt Beweis dafür ab, daß Dutschke die Folgen des 1968 gegen ihn verübten Attentats überstanden hat und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist. Die Dissertation imponiert durch die Masse ihrer Gedanken, durch den Fleiß, mit dem darin Daten zusammengetragen wurden, und durch die intellektuelle Kraft, mit der sie Dutschke bewältigt hat.
Im Frühjahr 1979 sagt er zu die entstehende Grüne Bewegung zu unterstützen. Er legt besonderen Wert darauf, daß diese Bündnisbewegung sich eindeutig und unmißverständlich von der Beeinflussung durch marxistische-leninistische Gruppen abgrenzen soll.
>Ich bin Sozialist in der Tradition von Rosa Luxemburg - Freiheit ist die Freiheit des Andersdenkenden- in der Tradition der bürgerlichen Revolution und der weitreichenden sozialistischen Umwälzung. Diese Linie schließt leninistische und stalinistische Traditionen aus. Sie macht aber Bündnisse möglich mit allen Kräften, die sich in der Tradition der bürgerlichen Revolution bewegen.<
Kurz vor Weihnachten 1979 führt die Süddeutsche Zeitung ein Interview mit ihm:
F: Was erhoffen sie sich von den achtziger Jahren?
Rudi: Mal wieder in dem Land leben, aus dem ich am Ende der 60er Jahre physisch-politisch davongejagt worden war [...] Ich hoffe jedenfalls, in den 80ern zu denjenigen zu gehören, die eine erste Wende der weiterhin zunehmenden Atomisierung und Chemisierung erkämpfen. Freiheit, Frieden und Sicherheit in einem sozialen und befreienden Sinne, d.h. Demokratie und Sozialismus, ist weiterhin meine Grundhoffnung
F: Was befürchten sie vom beginnenden Jahrzehnt?
Rudi: Eine Hetze und Denunziation gegen die gesellschaftlich immer relevanter werdende >grüne Opposition |