Inhalt (Mit einem besonderen Augenmerk auf die Vergangenheitsbewältigung):
Im Roman \"Morbus Kitahara\" fragt Christoph Ransmayr was gewesen wäre, wenn die westlichen Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht Wiederaufbau und Demokratisierung gefördert, sondern ein unterdrückendes und hemmendes Besatzungsregime errichtet hätten. Im Buch der sogenannte Friedensplan von Stellamour! Lyndon Porter verkündet ihn der Moorer Bevölkerung wie folgt:
\"... Gesindel! ...Feldarbeit ... Hubschrauber statt Bunker ... keine Fabriken mehr, keine Turbinen und Eisenbahnen, keine Stahlwerke ... Armeen von Hirten und Bauern ... Erziehung und Verwandlungen: aus Kriegstreibern Sautreiber und Spargelstecher! Und Jaucheträger aus den Generälen ... zurück auf die Felder ! ... und Hafer und Gerste zwischen den Ruinen der Industrie ... Krautköpfe, Misthaufen ... und auf den Terrassen eurer Autobahn dampfen dann Kuhfladen und wachsen im nächsten Frühjahr Kartoffeln ...\". (Seite 42) Das Motto war \"Zurück in die Steinzeit\" und \"... unaufhaltsam glitt Moor durch die Jahre zurück.\"(Seite 43)
Moor ist eine fiktive Stadt, aber eine, die an Badeorte und an den Seen im Salzkammergut erinnert. Und Österreich ist \"... ein Land von Pferdewagen, Karren und Fußgängern. Wo ein Autounfall ein Jahrmarktereignis ist\" (Vgl. Seite 81)
Major Elliott zwingt die Moorer Bevölkerung zu Bußritualen und Sühnegesellschaften, den sogenannten Stellamour-Parties, die vier mal im Jahr statt finden: \"... Major Elliot fand Fotos von der Geschichte des Barackenlagers am Schotterwerk. Nun (...) er begann, die Bilder als Vorlagen für gespenstische Massenszenen zu nehmen, die er im Verlauf einer Party von den Bewohnern des Seeufers nachstellen - und von einem Regimentsfotografen festhalten lies. Die Bilder mussten sich gleichen. (...) er bestand dabei auch auf einer wirklichkeitsgetreuen Kostümierung und befahl den Statisten aus Moor, sich als Juden, als Kriegsgefangene, Zigeuner, Kommunisten oder Rassenschänder zu verkleiden. (...) Sie mussten mit Davidstern vor imaginären Entlausungsstationen Schlange stehen, mussten als polnische Fremdarbeiter oder ungarische Juden vor einem ungeheuren Granitblock mit Hämmern, Keilen und Brechstangen posieren, und mussten vor den Grundmauern der zerstörten Baracken zu (...) Zählappellen antreten (Seite 45 f).
Bei den Quizspielen und Fragestunden, die auf dem Moorer Appellplatz an den Tagen vor und nach einer Stellamour-Party abgehalten worden waren, hatte ein Informationsoffizier Fragen immer wieder durch ein Megaphon geplärrt. (...) Mit einer richtigen Antwort, die ebenso ins Megaphon zu plärren (...) war, konnte jeder Teilnehmer (...) Margarinewürfel, Puddingpulver oder eine Stange filterlose Zigaretten gewinnen. \"Warum hat man Euch damals ins Lager gebracht?\" Ins Lager. Warum war überhaupt jemals ein Mensch aus seiner Wohnung, seinem Zimmer, seinem Garten oder aus irgendeiner Zuflucht in der Wildnis in ein Lager gebracht worden? Warum hatten halbverhungerte Bautrupps am Schotterwerk und in anderen Steinbrüchen schnurgerade Barackenzeilen und gleich dahinter Krematorien errichtet? (Seite 212)
Im Steinbruch am See wird Granit, dunkelgrünes Urgestein, wie nur in zwei Brüchen der Erde, abgebaut. Der erste liegt an der Atlantikküste Brasiliens, der zweite eben am See von Moor. Darin eingemeißelt mannshohe Steinlettern, eine Erinnerung für die Bevölkerung Moors und eine weit sichtbare Mahnung an alle Besucher auf die noch bis vor kurzem in diesem Steinbruch umgekommene Massen:
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