Am 31. Januar 1929 erscheint im Ullstein-Propyläen Verlag Berlin der Roman »Im Westen nichts Neues« von Erich Maria Remarque und wird zu einem Bestseller, der den Weltkrieg aus der Per¬spektive des einfachen Soldaten, der von der Schulbank eingezogen worden ist, schildert. Nach dem Vorabdruck in der »Vossischen Zeitung« (ab 10.11.1928) ist die Erstauflage des Buchs schon vor Erscheinen vergriffen; es entwickelt sich zum meistgelesenen Werk der ersten Jahrhunderthälfte. Andere Verlage, etwa S.Fischer, hatten das Manuskript zuvor abgelehnt.
Der Kampf um Remarque
Als das Buch "Im Westen nichts Neues" auf den Markt kam, war es bereits ein sehr umstrittenes Buch. Es gab wohl keine Zeitung, die nicht Stellung nahm. Eine ganze Reihe von Blättern berich¬tete mehrmals. Nicht immer war die Würdigung objektiv, je nach der politischen Ausrichtung des Blattes las man die verschiedensten Tendenzen aus dem Buch.
So wurde ihm u.a. vorgeworfen, \"die deutschen Soldaten grausamer Handlungen zu beschuldigen, deren sie niemals fähig gewesen wären - denn der deutsche Soldat war bekannt für schmerzlosen Nahkampf und humanes Trommelfeuer\" (Kasper Hauser [d.i. Kurt Tucholsky] in: die Weltbühne, Berlin, 11.06.1929)
Hier sind einige weitere Ausschnitte von Zeitungsartikel aus dieser Zeit.
Über 450 000 Exemplare verkauft! Das bedeutet rund eine Million Leser! Ist es das Kriegsbuch, als das es gepriesen wird?
Wir sind gewiß, daß es alles andere als die Schilderung des inneren Erlebens des Frontsoldaten ist. Manche Gefühle, die den Soldaten durchtobt, sind zweifellos richtig erfaßt. Die schwachen Stunden sind gut wiedergegeben, aber das Heldische, das den Mitläufer auf Befehl überragte, das das Kleine im Menschen besiegte, das fehlt. Erich Maria Remarque heißt im bürgerlichen Leben Kra¬mer. Sein Schriftstellername ergibt sich aus der Umstellung des Vaternamens mit der Verwelschung des \"k\" in \"que\". Unter dem Namen \"Remarque\" sind schon früher Bücher geschrieben worden, die den Verfasser von \"Im Westen nichts Neues\" zum Urheber haben...
(Der Dichter...Textausschnitt)
J. E.: Nichts Neues im Westen
Von der Schulbank in den Feuerofen des Krieges geworfen, ist eine ganze Generation zerstört wor¬den. Was nicht durch Eisen und Feuer ausgetilgt wurde, fand die Heimat nicht mehr. Herausgeris¬sen aus allem Sein, losgelöst von Familie und Beruf, zweifelnd an allem Gewesenen und an allem Wer¬denden, verzweifelt über den gleichgültigen Gang des Alltags, von Wachträumen verfolgt, aus dem Schlaf durch jähes Erinnern aufgeschreckt, der Sorge um das tägliche Leben preisgegeben, im Kampf um die nackte Existenz mit zerrütteten Nerven, geschwächtem Körper.
Sie haben die Zähne zusammengebissen und geschwiegen. Während das Entsetzliche geschah, konnten sie nicht reden. Man hätte sie nicht gehört und nicht verstanden. Und als alles zu Ende war, waren sie müde, mürbe, ausgelöscht, hatten sie nur den einen Wunsch, zu vergessen.
Andere haben geredet. Dicke Bücher sind erschienen, in denen Schlachten geschildert und Lorbee¬ren verteilt wurden. Die Strategen führten das große Wort. Denkmäler wurden errichtet, und an Re¬den mit klingender Musik und wehenden Fahnen war kein Mangel. Was den Menschen im Feu¬ero¬fen geschah, was sie empfunden, erhofft, gelitten, gelobt und verflucht, ging unter in dem lär¬men¬den Tusch der Fanfaren, in dem leeren Gerede von Heldentum und Dank des Vaterlandes.
Sie standen dabei, ließen es geschehen, suchten vergebens nach einem Wort, nach einem Ausruf, der all das wegwischte, zum Schweigen brachte, was da mit Wortgepränge und billigen Phrasen die alten Legenden erneuerte, die Lügen von der Macht und Herrlichkeit des Soldatenlebens, von dem Glanz und Glück der Vergangenheit, von der Notwendigkeit, immer neue Massengräber zu füllen.
Zehn Jahre sind seit dem bitteren Ende der bitteren Jahre vergangen. Zehn Jahre, in denen sich all¬mählich aus irren und wirren Gefühlen, aus Haß und Verzweiflung eine neue Beziehung zu dem Geschehenen gestaltete. Jetzt ist ein gewisser Abstand gewonnen, der es ermöglicht, das Einzeler¬lebnis in den großen Zusammenhang einzuordnen. Und der Ablauf der Zeit hat das Schwere so weit abgerückt, daß unsere Ohren willig und fähig sind, zu hören.
Einer aus der grauen Masse, einer von den Hunderttausenden, die als halbe Kinder dem Ruf zu den Fahnen freiwillig folgten, begeistert, ahnungslos, fortgerissen durch die Ermahnungen patrioti¬scher Lehrer und das Beispiel der Kameraden, ein Soldat, der bis zum letzten Tag seine Pflicht tat und, zurückgekehrt, untertauchte im Gleichmaß bürgerlicher Arbeit, ein geordneter, schlichter, schwer¬blütiger, schweigsamer Mensch, muß für alle sprechen, muß das Gespenst der Vergangen¬heit stel¬len, am Kreuzweg um Mitternacht, muß es packen und halten und noch einmal mit Le¬bensblut er¬füllen - damit es Zeugnis ablege und ihnen allen die Ruhe bringe, allen, die für immer schweigen, und allen, auf denen heute noch der Druck unklaren Erinnerns, geteilter Gefühle, zer¬rissenen Emp¬findens liegt.
Erich Maria Remarque, kein Schriftsteller von Beruf, ein junger Mensch in den ersten Dreißigern, hat zugegriffen, hat plötzlich vor einigen Monaten den Drang und Zwang empfunden, das in Worte zu fassen, zu gestalten und innerlich zu überwinden, was ihm und seinen Schulkameraden, einer ganzen Klasse von jungen, lebenshungrigen Menschen, von denen keiner wiederkehrte, geschehen war. Was entstanden ist, läßt sich nicht in irgendeine Literaturgattung einreihen. Es ist kein Kriegs¬roman, auch kein Tagebuch. Es ist erlebtes Leben und doch abgerückt durch eine Gestal¬tungskraft, die das persönliche Erleben ohne Kunstgriff, ohne Verzerrung und Verzeichnung in eine Sphäre der Allgemeingültigkeit hebt. So ist das erste wirkliche Denkmal des Unbekannten Solda¬ten« entstan¬den. Ein Werk, das Blatt für Blatt den Eindruck ergreifender Wahrheitstreue erweckt, ein Gemälde, in den schlichtesten Farben gehalten und doch so erfüllt von innerem Leben, von ei¬ner Leiden¬schaft des Erinnerns, von einer Heiligkeit und Stärke des Empfindens, daß niemand ohne innerliche Be¬tei¬ligung, ohne stärkste Erschütterung bleiben kann.
Es ist ein Buch ohne Tendenz und doch ein Mahnmal stärker als Stein, dauernder als Erz, ein Mahnmal, das die Herzen ergreift, die Köpfe erfüllt, das kommenden Generationen das wahre Bild des furchtbarsten Krieges lebendig erhält.
Die »Vossische Zeitung« hält es für ihre Pflicht, der Öffentlichkeit dieses starke und wahre Werk - sein Titel lautet \"Nichts Neues im Westen\" - vorzulegen, in diesen Novembertagen, in denen alte Formen zerbrachen und neues Leben unter Wehen ward.
Vossische Zeitung, 8. 11. 1928
Worin besteht die geheime Kraft seines Buches? Was macht es einzigartig?...daß Remarque nicht dem Leser eine fertige Gesinnung Seite für Seite einlöffelt, sondern es ihm überläßt, selbst aus dem Buche Schlüsse zu ziehen: das ist das Geheimnis seiner Wirkung. Remarque hat offenbar mit dem Buch nichts anderes zu tun gewünscht, als sich eine furchtbare Erinnerungslast vom Nacken zu wälzen. So gibt es bei ihm Dinge, die auf verschiedene Menschen ganz verschieden wirken...
Aber so vieldeutig ist das Leben selbst ja auch. Und daß Remarque dieses Leben so gibt, wie er es sah und hatte, daß er einem nicht andauernd den Kopf mit privaten Meinungen verkeilt, sondern die Tatsachen durch sich wirken läßt, das ist der Reiz des Buches.
\"Im Westen nichts Neues\" wurde innerhalb von 12 Wochen von 500000 Menschen gekauft! 14 Na¬tionen lassen es in ihre Sprache übersetzen. Bilden Sie sich bitte selbst ein Urteil und lesen Sie das Buch, das im Propyläen-Verlag erschien und für 4 Mark broschiert, für 6 Mark in Ganzleinen überall zu haben ist.
Die Welt am Montag, Berlin
\"Er beginnt damit, daß die Schüler von einem Lehrer, welcher selbst als Drückeberger dargstellt wird, zur Meldung als Kriegsfreiwillige bewogen werden. Bei der Ausbildung in der Kaserne ist fast nur von einem Unteroffizier die Rede, der ein vollendeter Menschenschinder ist, andere Vorge¬setzte, welche durch ihr Beispiel Begeisterung bei den jungen Leuten wecken konnten, fehlen. Bei sämtlichen Erlebnissen an der Front sind nur die schaurigsten Ereignisse gemalt; der Frontsoldat wird als ein in seinen Gewohnheiten fast zum Tier gewordenes, stumpfsinniges Wesen dargestellt, dem jeder Zug heldischen Geistes und vaterländischer Gesinnung vollständig abgeht. Bei der Schilderung eines Urlaubs wird in der Heimatgarnison nur ein Stabsoffizier beschrieben, der in übertriebener Weise den übermüdet aus der Sommerschlacht zurückkommenden Frontsoldaten schurigelt und ihm droht, er werde ihm die verfluchten Frontmanieren schon austreiben. Schöne und erhebende Erlebnisse fehlen gänzlich
(Graf von Schlieffen in: Deutsches Adelsblatt, 16.03.1929).
WAHR ODER NICHT WAHR?
Viele Zeitungsartikel beschäftigten sich mit dem Wahrheitsgehalt des Buches:
Das Buch Remarques ist eine geschickte Federzeichnung aller Kehrseiten des Krieges...
(Deutsche Zeitung, Berlin)
...all diese Schilderungen sind so wahr und so erschütternd, daß alles noch einmal miterlebt wird...
(Kölnische Zeitung)
Das, was Remarque, erlebte, das haben tausend und aber tausend erlebt, und gerade so...
(Hamburger Fremdenblatt)
...daß hier Maulwürfe am Werke sind, die in geschickt getarnter Weise das wahre Kriegserlebnis fälschen...
(Völkischer Beobachter, München)
...die ehemaligen Frontsoldaten erkennen in diesem Buche die erste ganz unkonstruierte und un¬ver¬bogene Darstellung des Krieges...
(Schwäbische Tagwacht, Stuttgart)
Dem Buch von Remarque die Wahrheit des Inhalts abzusprechen, ist eine äußerst kühne Anmaßung. Wer selbst im Kriege an der Front war und den ganzen Schlamassel durchgemacht hat, kann nur sagen, so war es tatsächlich.
(Jenaer Volksblatt.)
PAZIFISTISCH ?
Häufig war auch die Frage nach pazifistischen Tendenzen Streitpunkt der Zeitungen:
...dennoch verbirgt sich unter der scheinbar referierenden Wiedergabe die Drachensaat des Pazi¬fismus
(Hamburger Nachrichten)
Die Leute, die von dem Buch \"Im Westen nichts Neues\" eine pazifistische Wirkung erwarteten; ha¬ben sich getäuscht. Die Front lebt auf und nicht ein pazifistisches Gefühl.
(Der Jungdeutsche, Berlin)
...Kein pazifistisches Buch! Es trägt nicht zur Verhinderung des Krieges bei: weil es zwar aufzeigt, was ist, nicht aber Stellung nimmt, nicht zur Abwehr aufruft, nicht den Weg zur Tat zeigt.
(Die Friedenswarte)
Wer pazifistischer Wegweiser im üblen Sinne des Wortes werden möchte, der verbreite dies Buch...
(Jenaische Zeitung)
Die Stärke von \"Im Westen nichts Neues\" liegt in der Jugend der heimlichen Melodie dieses Werkes. Diese Melodie ist nicht pazifistisch.
(Berliner Tageblatt)
...einen äußerst geschickt verkleideten Versuch, den wehrhaften Geist des deutschen Volkes zu er¬tö¬ten...
(Österreichische Wehrzeitung, Wien)
...Bei Gott, ein pazifistischer Roman ließe sich raffinierter anlegen...
(Hochland, München)
Das Buch fördert nicht so sehr den Abscheu vor dem Kriege, als es die latent gewordene Kriegslust weckt.
(Die Welt am Abend, Berlin)
WIE WAR WAHRES HELDENTUM?
Auch diese Frage zeigte die extremen Differenzen zwischen den verschiedenen Weltanschauungen der Blätter, und somit die verschiedenen Bewertungen von Remarques Buch.
Diesem Buch fehlt auf jeder Seite die große Konzeption vom Empfinden des vaterländischen Hero¬ismus, vor dem jeder einzelne nichts war, die Gemeinschaft der Frontsoldaten aber zur gewaltigen Persönlichkeit emporwuchs.
(Hamburger Nachrichten)
...Dieses im wahrsten Sinne heroische Buch gehört in jedes deutsche Haus!
(Tremonia, Dortmund)
Die Selbstverständlichkeit der Pflichterfüllung bis in den Tod tritt bei Erich Maria Remarque in den Vordergrund seiner Schilderung...
(Der Jungdeutsche, Berlin)
Das ist der Mut, der sich zur Feigheit bekennt...
(Bergisch-Märkische Zeitung, Elberfeld)
Frontgeist - hier haben wir ihn in seinen besten natürlichen, menschlichsten Art, befreit von jeder Phrase...
(Der Altmärker, Stendal)
Es ist weder Anklage noch Tendenz, wenn der \"Heldentod\" eine Schilderung seiner Wahrheit er¬fährt, der Wahrheit von tausendmal Erlebtem.
(Darmstädter Tagblatt)
Sie haben alle dasselbe erlebt. So und nicht anders waren die Gespräche unter ihnen. So und nicht anders ihre kleinen und großen Sorgen, so und nicht anders ihre Kameradschaftlichkeit.
(Essener Anzeiger)
BELEIDIGEND UND TENDENZIÖS?
Schwere Vorwürfe wurden von der einen Seite erhoben und von der anderen abgelehnt
...eine grobe Beleidigung des deutschen Heeres und des deutschen Frontsoldaten...
(Bundesblatt des Königin-Luise-Bundes)
Kein Wort der Anklage, des Aufruhrs, der Hetze. Dies Buch ist kein Leitartikel, sondern ein Be¬richt...
(Gießener Anzeiger)
...wird das Buch vielfach mit der Bemerkung abgetan: \"Tendenz, übelste Tendenz\". Doch ist die \"Tendenz\", die aus dem Werke Remarques spricht, weiter nichts als die bitterste Wahrheit...
(Danziger Zeitung)
ANSTÖSSIG?
Ein weiterer Vorwurf, der in manchen Buchkritiken über "Im Westen nichts Neues" erhoben wurde
Wenn man es versucht, Herrn Remarque den Absatz seines Latrinenschmökers zu erschweren, dann wollen wir doch nicht darüber klagen...
(Coburger Tageblatt)
...er ist nicht zimperlich auf die Tanten beiderlei Geschlechts, die von ihm damals erwarteten, daß er auch für die Welt ihrer Sofaschoner rücksichtslos sein Leben einsetzte, kann er keine Rücksicht nehmen, er muß, wenn er das Ganze geben will, auch von Dingen sprechen, von denen man nicht spricht. Seine Bekenntnisse werden Anstoß erregen, wie jede unumwickelte Wahrheit.
(Württemberger Zeitung, Stuttgart)
GEFAHR FÜR DIE JUGEND ?
Manche Zeitungen warfen Remarque Jugendgefährdung vor, andere hielten es für wichtig, daß mög¬lichst viele Jugendliche das Buch lesen:
Ich stehe nicht an, zu behaupten, daß dieses Buch eine sittliche Gefahr bedeutet, besonders für unsre heranwachsende Jugend...
(Steinfurter Anzeiger)
Dieser Erich Maria Remarque hat ein Jugendbuch geschrieben, eines der wichtigsten vielleicht, die geschrieben wurden...
(Kölner Tageblatt)
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