Ludus Tonalis
Vom 29. August bis 12.Oktober 1942 schrieb Hindemith in Amerika den "Ludus Tonalis" als ein modernes Pendant zu Bachs "Wohltemperierten Klavier" und als musikalisch - praktische Dokumentation seiner theoretischen Erkenntnis von einer Ordnung der Töne, die er zwei Jahre vorher in seiner "Unterweisung im Tonsatz" dargetan hatte. Der Untertitel "Kontrapunktische, tonale und klaviertechnische Übungen" ist sicherlich als ein Anklang an die Ausdrucksweise Bachs gemeint und will wie bei diesem - man denke an die vier Teile der "Klavierübung" mit den Partiten, den Goldberg - Variationen usw. - durchaus nicht im Sinn von Fingerübungen, sondern im Sinn von Musik-"Ausübung" verstanden sein. Es handelt sich um zwölf durchweg dreistimmige Fugen in den Tonalitäten der zwölf Töne der chromatisch aufsteigenden Skala, jedoch nicht, wie er ursprünglich geplant hatte, wie bei Bachs "Wohltemperiertem Klavier", in der Reihenfolge der chromatisch Aufsteigenden Skala, sondern in der Anordnung der "Reihe 1", die Hindemith in seiner "Unterweisung" Entwickelt hat, die den Grad der Verwandtschaft der einzelnen Töne zu einem gegebenen Ausgangston, als der C angenommen wird, bezeichnet.
Zwischen die Fugen stellt Hindemith Interludien, die entweder in der Tonalität der vorangegangenen oder der nachfolgenden Fuge stehen, oder zwischen beiden modulierend vermitteln. Während die Interludien vor allem spielfreudige "Charakterstücke" sind - es gibt unter ihnen eine Pastorale, einen Marsch, einen Walzer - , so demonstrieren die Fugen die verschiedensten Möglichkeiten kunstvoller polyphoner Satzweise: So ist etwa die 1. Fuge (in C) eine Tripelfuge, d.h. eine Fuge mit drei Themen, die zuerst einzeln exponiert werden, dann aber viermal gleichzeitig erklingen. Nr. 3 (in F) läuft von der Mitte, als von einer vertikalen Spiegelebene an, Ton für Ton krebsgängig zum Beginn zurück. Nr.4, eine Doppelfuge, exponiert ihr zweites Thema in einem zarten, in Charakter und Tempo abgesetzten Mittelteil, um im dritten Teil beide Themen zu kombinieren. Nr. 5 (in E, eine Art Gigue) und Nr.6(in Es, Tranquillo) kombinieren Grundgestalt des Themas mit seiner Umkehrung, Nr.9 (in B) demonstriert in unbefangenem Scherzando - Gewand fast alle Möglichkeiten der Verwandlung eines Fugenthemas: Umkehrung, Krebs, Krebsumkehrung und Vergrößerung. Nr. 10 (in Des) bringt von der Mitte des Stückes an die genaue Umkehrung des ersten Teils ("horizontale Spiegelung"), Nr. 11, eigentlich eine zweistimmige Fuge mit einer Art Continuo - Baßstimme, genügt auch den Gesetzen eines Kanons, Nr. 12 endlich ist eine - zweiteilige - Engführungsfuge, d.h. der zweite Themeneinsatz erfolgt schon, bevor noch die erste Stimme das Thema zu Ende geführt hat; jeweils am Ende ihrer beiden Teile nimmt eine Art Refrain von fast volksliedhafter, schlichter Innigkeit gleichsam Abschied vom ganzen Werk. Eingeleitet und beschlossen wird der Zyklus von einem Präludium und einem Postludium, die zueinander im Verhältnis der optischen Umkehrung ihres Notenbildes stehen, d.h. die erste Seite des Notenbandes ist mit der auf den Kopf gestellten letzten Seite identisch.
Wie Hindemith solche Problemstellungen löst, so daß durchblutete Musik entsteht, der man gar nichts trocken konstruiertes anhört, erweist nicht nur seine unglaubliche musikalische Vorstellungskraft und Kombinationsgabe, sondern auch seine Fabulierfreude. Hohe Geistigkeit und Freude am Spielerischen schließen einander bei ihm nicht aus. Ein Dokument seiner sich auch im Zeichnerischen erweisenden Fabulierfreude ist übrigens auch das Exemplar des "Ludus Tonalis", das Hindemith seiner Frau, die im Sternbild des Löwen geboren war, zum Geburtstag schenkte: Er hatte es mit Buntstiften "illustriert", wobei u. a. für jeden Themeneinsatz der Fugen ein Löwe gezeichnet ist und für jede der 12 Fugen ein andere Typ des Löwen, immer zum Charakter des Stückes passend erfunden ist: eine einzigartige, launige, leider erst in wenigen Einzelbeispielen publizierte, überaus instruktive "Formenanalyse".
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