Johann Friedrich Herder: Über Humanität
Humanität ist der Zweck der Menschennatur, und Gott hat unserem Geschlecht mit diesem Zweck sein eigenes Schicksal in die Hände gegeben. Die Geschichte, verschiedene Räume und verschiedene Zeiten, sind der Ort, in dem Humanität als der "Charakter unseres Geschlecht" dem Menschen "angebildet werden muss", denn wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit; auf der Welt aber soll er das Ziel unseres Bestrebens, die Summe unserer Übungen, unser Wert sein. Das Göttliche in unserem Geschlecht ist als Bildung zur Humanität. Die Bildung zu ihr ist ein Werk, das unablässig fortgesetzt werden muss, oder wir sinken, höhere und niedere Stände, zur rohen Tierheit, zur Brutalität zurück.
Johann Wolfgang von Goethe: Nähe des Geliebten
Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer
Vom Meere Strahlt
Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer
In Quellen malt.
Ich sehe dich, wenn auf dem fernen Wege
Der Staub sich hebt;
In tiefer Nacht, wenn auf dem schmalen Stege
Der Wandrer bebt.
Ich höre dich, wenn dort mit dumpfen Rauschen
Die Welle steigt.
Im stillen Haine geh ich oft zu lauschen,
Wenn alles schweigt.
Ich bin bei dir, du seist auch noch ferne,
Du bist mir nah!
Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne.
O wärst du da!
Wilhelm von Humboldt: an Karoline
Eilet raschen Flugs dahin,
Eilt, ihr trägen Augenblicke,
Daß mein lieberfüllter Sinn
Meine Lina bald erblicke,
Sie, die meinem Herzen, ach! so nah,
Nie mein schwermutsvolles Auge sah!
Daß ich an ihr klopfend Herz
Traulich-brüderlich mich schmiege,
Süß vergessend jeden Schmerz,
Jede Sorg im Schlummer wiege,
Und versenkt in Himmelsschwärmerei
Nur in Lina lebe, webe, sei!
Ha! wenn dann mich hochentzückt
Sie mit sehnendem Verlangen
An den Schwesterbusen drückt!
Wie wird dann auf meinen Wangen
Süß beglückter Liebe Feuer glühn!
Geist und Sinnen werden vor mir fliehn!
Friedrich Schiller: Der Antritt des neuen Jahrhunderts
Edler Freund! Wo öffnet sich dem Frieden,
Wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort?
Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden,
Und das neue öffnet sich mit Mord.
Und das Band der Länder ist gehoben,
Und die alten Formen stürzen ein;
Nicht das Weltmeer hemmt des Krieges Toben,
Nicht der Nilgott und der alte Rhein.
Zwo gewaltige Nationen ringen
Um der Welt alleinigen Besitz;
Aller Länder Freiheit zu verschlingen,
Schwingen sie den Dreizack und den Blitz.
Gold muß ihnen jede Landschaft wägen,
Und, wie Brennus in der rohen Zeit,
Legt der Franke seinen ehrnen Degen
In die Waage der Gerechtigkeit.
Seine Handelsflotten streckt der Britte
Gierig wie Polypenarme aus,
Und das Reich der freien Amphitrite
Will er schließen, wie sein eignes Haus.
In des Südpols nie erblickten Sternen
Dringt sein rastlos ungehemmter Lauf;
Alle Inseln spürt er, alle fernen
Küsten - nur das Paradies nicht auf.
Ach, umsonst auf allen Länderkarten
Spähst du nach dem seligen Gebiet,
Wo der Freiheit ewig grüner Garten,
Wo der Menschheit schöne Jugend blüht.
Endlos liegt die Welt vor deinen Blicken,
Und die Schifffahrt selbst ermißt sie kaum;
Doch auf ihrem unermeßnen Rücken
Ist für zehen Glückliche nicht Raum.
In des Herzens heilig stille Räume
Mußt du fliehen aus des Lebens Drang!
Freiheit ist nur in dem Reich der Träume,
Und das Schöne blüht nur im Gesang.
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