In dem bürgerlichen Trauerspiel "Kabale und Liebe" von Friedrich Schiller vergiftet der Präsidentensohn Ferdinand sich und seine Geliebte, die Tochter eines Musikers, nachdem der Präsident durch mehrere Intrigen versucht hat, ihre Liebe zu zerstören. In Christian Friedrich Hebbels "Maria Magdalene" stürzt sich die bürgerliche Klara nach einem Duell zwischen ihrem Ehegatten und ihrer Jugendliebe in einen Brunnen, um nicht die Schuld am Tod ihres Vaters zu tragen, der gedroht hat, sich selbst umzubringen, falls sie ihm Schande bereite. Gotthold Ephraim Lessings "Emilia Galotti" wird zum Schluss von ihrem Vater getötet um nicht ihre Unschuld und Tugend zu verlieren. Auch viele weitere große Dramen der Weltliteratur enden mit einem Mord, Freitod oder sogar beidem zugleich. Und bei fast allen stellt sich dem Leser die Frage, wer denn nun Schuld trage an diesem Tod. Ivan Nagel schreibt in seinem Artikel "Aufklärung über das "aufgeklärte Bürgertum"." In der Zeitschrift "Theater heute" über die Schuldfrage folgendes: "Konkret gesagt: Wenn ein geschändetes Bürgermädchen Selbstmord begehen oder sich töten lassen muss, so liegt die Schuld nicht bei dem, der es "geschändet" hat, sondern bei denen, die es für "geschändet" halten." Doch ist es wirklich so einfach? Kann der "Schänder" ohne Weiteres von jeglicher Schuld befreit werden? Ist er nicht vielleicht sogar doch der einzige Schuldige? Das ist natürlich eine schwierige Frage. Gehen wir im Folgenden einmal auf das Drama Emilia Galotti ein. Wer hat in diesem Trauerspiel die Schuld? Ist es der Prinz mit seinem Kammerherrn und Freund, dem Grafen Marinelli, oder ist es Emilias Vater, der in ihr die "Geschändete" sieht?
Der erste wichtige Punkt zur Erörterung der Schuldfrage ist, dass Emilia selbst sich ihren Tod wünscht, um nicht im Haus der Grimaldi verführt zu werden. Wie sie selbst sagt, "erhob sich so mancher Tumult in [ihrer] Seele"1, wenn sie nur eine Stunde mit ihrer Mutter dort gewesen ist. Für diesen schämt sie sich und fühlt sich wie eine Sünderin. Ihre eigenen Bitten veranlassen den Vater dazu, dass er ihr den "Stahl in das Herz senkt[...]"2. In diesem Fall ist die Erziehung ausschlaggebend für Emilias Wunsch zu sterben. Ihr Vater war stets darauf bedacht, dass sie ein tugendvolles Leben führe. Ihm war es nicht so ganz recht, dass Emilia bei ihrer Mutter in der Stadt aufwuchs, die Nähe zum Hof war seiner "strengen Tugend so verhasst"3. Dies alles zeigt, dass Emilias Wunsch zu sterben eigentlich nur aus dem Wunsch ihres Vaters gewachsen ist, dass seine Tochter mit keinerlei Unmoral in Verbindung käme. Diese Wertvorstellung ist nun jedoch konträr zum damaligen Zeitgeist. Das Drama spielt in der Mitte des 18. Jahrhundert, in der Epoche der Aufklärung, einer Zeit, in der überlieferte Werte, Konstitutionen und Normen in Frage gestellt werden. Traditionelle Sichtweisen werden hinterfragt, innovative Weltanschauungen gewinnen die Oberhand. Edoardo Galotti war also ein Mensch mit, für damalige Zeit recht altmodischen und besonders strengen Moralvorstellung, die er auf seine Tochter übertrug und damit ihre Entscheidung zu sterben auslöste. Er ist also mitverantwortlich für Emilias Willen zu Sterben.
Für ihren Tod selbst hat sich Odoardo Galotti natürlich auch zu verantworten. Schließlich ist sie durch seine Hand gestorben, er war es, der den Mord ausgeführt hat. Es ist gleichgültig, wie edel seine Beweggründe waren, es macht keinen Unterschied, dass Emilia sich den Tod wünschte, sie zu töten war kein Kavaliersdelikt, es war ein Verbrechen. Ein Vater, der seine Tochter liebt, muss alles daran setzen, ihre Lebensfreude aufrechtzuerhalten. Galotti hätte versuchen müssen, eine Lösung zu finden. Seine Aufgabe wäre es gewesen, Emilia zu beschwichtigen, ihr klarzumachen, dass ihre Situation nicht so ausweglos ist, wie sie glaubt. Eventuell hätte er versuchen können, zu fliehen, oder den Prinzen dazu zu überreden, dass sie nicht zu den Grimaldi geschickt werde. Keinesfalls aber hätte er ihre Verzweiflung durch seine Rede verstärken dürfen. Außerdem hätte er Emilia den Dolch nicht zeigen dürfen, zumindest aber, als sie nach ihm verlangte, ihn wieder einstecken müssen. Dies alles führt zu dem Schluss, das Odoardo Galotti nicht wenig Schuld trägt am Tod seiner Tochter.
Doch auch der Prinz und sein Handlanger Marinelli tragen ihren Teil zu Emilias Tod bei:
Zunächst einmal macht sich Marinelli, der Kammerherr des Prinzen, im Fall Emilia Galotti schuldig. Schließlich veranlasst er den Überfall auf die Kutsche des Brautpaares. Auch der Tod des Grafen Appiani, mit dem Emilias Unglück ihren Anfang nahm, ist ihm zuzuschreiben. Die Planung und Durchführung dieses Komplotts ist höchst gesetzeswidrig und widerspricht allen Moralvorstellungen sowohl der heutigen als auch der damaligen Zeit. Dass der Prinz dem Grafen Marinelli jedoch freie Hand gibt alles zu tun, nur damit er selbst seine Begierde nach Emilia stillen kann, macht ihn auch an dieser Stelle noch mitschuldig. Er beeinflusst Marinelli, indem er ihm jedes Mal, sobald etwas schief läuft, anklagt. So beschwert sich der Prinz beispielsweise als Marinelli ihm von Emilias Hochzeit berichtet, dass er, der von des Prinzen Liebe zu Emilia nichts wusste, ihm nicht früher davon erzählt habe. "O ein Fürst hat keinen Freund! Kann keinen Freund haben!"4, wirft er ihm vor. So fühlt der Graf sich gezwungen, alles dafür zu tun, dass Emilia die Liebe des Prinzen erwidert, damit er selbst wieder als sein Freund und Vertrauter gelten kann. So trifft also zumindest in diesem Punkt den Prinzen eine gewisse Mitschuld.
Auch wäre Emilia ohne den Prinzen und dessen Liebe gar nicht erst in eine solch ausweglose Lage gekommen, dass sie keinen anderen Ausweg sieht als den Tod. Des Prinzen größte Schuld besteht darin, dass er sich in ihr Leben eingemischt hat und sie dadurch am glücklich werden hinderte. Der Versuch eine schon beschlossene Heirat am selben Tage, da sie stattfinden sollte, zu vereiteln, ist nicht Recht. Der Prinz hätte das Schicksal seinen Lauf nehmen lassen sollen, er hätte Emilia heiraten lassen sollen und sie mit dem Grafen Appiani ein schönes Leben führen lassen sollen. Das allein wäre ein angemessenes Verhalten gewesen. Er jedoch mischt sich in die Heirat ein. Statt alles dafür zu tun, dass es Emilia gut geht und dadurch seine Liebe zu ihr zu beweisen, setzt er ihr Glück aufs Spiel um seine Begierde zu befriedigen. Dies lässt an seiner Liebe zweifeln und weist darauf hin, dass er nur auf sein eigenes Wohl bedacht ist. Durch dieses Gebaren treibt er Emilia in die Verzweiflung.
Diese Darlegungen lassen erkennen, dass im Mordfall Emilia Galotti keine eindeutige Schuldzuweisung möglich ist. Es ist nicht die alleinige Schuld des Vaters, seiner Erziehung und seiner Wertvorstellungen. Ebenso wenig trägt der Prinz mit seiner Begierde und seinem Fehlverhalten die ganze Schuld. Auch Emilias starker Wille trägt wohl seinen Teil zu der Misere bei, denn schließlich führt ja er sie letztendlich in den Tod. Alle Beteiligten trifft in gewissem Sinne ein Schuld, beziehungsweise Mitschuld. Möglicherweise hätte es schon gereicht, wenn auch nur ein einziger für eine kurze Zeit anders gehandelt oder etwas anderes gesagt hätte. Vielleicht hätte Emilia aber auch dann noch den Tod gewählt, wenn alles ganz anders gekommen wäre. Sicher ist nur, dass kein Einzelner alle Schuld auf sich nehmen muss, sondern es ist das komplexe Zusammenspiel verschiedener äußerst widriger Umstände, das zwangsläufig darin endet, dass Emilia aus freiem Willen stirbt.
Diese Verwebung unglücklicher Zufälle sind auch Bestandteil vieler anderer bedeutender Werke der Weltliteratur. Oft ist es die Komplexität der Zustände, die ihnen Spannung geben, die sie interessant machen. Die Tragik ist es, die ihnen Tiefe gibt, die den Leser oder Zuschauer in ihren Bann ziehen, die ihn mitfühlen lässt. Der Tod durch Verzweiflung am Schluss schockiert, regt zum Nachdenken an. "Hat es wirklich so weit kommen müssen?", ist eine ebenso häufige Überlegung, wie die Frage nach der Schuld. Diese ist aber meist nicht eindeutig zu beantworten, wie eben bei "Emilia Galotti". Aber gerade das macht diese Geschichten zu dem was sie sind: Bedeutsame Werke, die auch Jahrhunderte später noch viel gelesen, inszeniert und diskutiert sind.
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