Vorbemerkung:
An der Biographie Goethes läßt es sich besonders gut ablesen, welche Bedeutung die Antike für die Klassik hatte. Goethe hatte schon lange den Wunsch gehegt, Italien kennenzulernen, als er im September 1786, ohne seine Umgebung zu informieren, zu seiner Reise nach Italien. Neben der Italiensehnsucht war wohl auch die Unzufriedenheit mit seiner bisherigen Tätigkeit in der Weimarer Staatsverwaltung ein Motiv für seinen Entschluß. Die Reise fühlte ihn über die Alpen nach Trient, Vicenza, Venedig, Padua und über Mittelitalien (Perugia, Assisi) nach Rom, wo er am 29. Oktober ankam. Am 22. Februar 1787 reiste er nach Neapel, am 29. März nach Sizilien weiter; am 7. Juni 1787 kehrte er nach Rom zurück.
Auf seiner Rückreise nach Deutschland (April bis Juni 1788) lernte er vor allem noch Florenz und Mailand kennen.
Erst 1813/14 begann Goethe, die Erfahrungen der ,,italienischen Reise\" im Überblick darzustellen; er stützte sich dabei u.a. auf Notizbücher, Briefe und ein Reisejournal aus der Zeit seines Aufenthaltes in Italien. ,,Es handelt sich also bei der Veröffentlichung der , Italienischen Reise' weniger um eine Neuschöpfung als um eine Redaktion\" (H. v. Einem).
Gerade aber der zeitliche Abstand, der zwischen der kunstvollen Komposition dieses Werkes und der Reise selbst liegt, läßt erkennen, welche Bedeutung die Italienreise für Goethe über das unmittelbare Erlebnis hinaus hatte.
Reiseerfahrungen
Johann Wolfgang Goethe (1749-1832): Italienische Reise [Auszug)
[...] Rom, den 1. November 1786
Endlich kann ich den Mund auftun und meine Freunde mit Frohsinn begrüßen. Verziehen sei mir das Geheimnis und die gleichsam unterirdische Reise hierher. Kaum wagte ich mir selbst zu sagen, wohin ich ging, selbst unterwegs fürchtete ich noch, und nur unter der Porta del Popele war ich mir gewiß, Rom zu haben.
Und laßt mich nun auch sagen, daß ich tausendmal, ja beständig eurer gedenke in der Nähe der Gegenstände, die ich allein zu sehen niemals glaubte. Nur da ich jedermann mit Leib und Seele in Norden gefesselt, alle Anmutung nach diesen Gegenden verschwunden sah, könnte ich mich entschließen, einen langen, einsamen Weg zu machen und den Mittelpunkt zu suchen, nach dem mich ein unwiderstehliches Bedürfnis hinzog. Ja, die letzten Jahre wurde es eine Art von Krankheit, von der mich nur der Anblick und die Gegenwart heilen konnte. Jetzt darf ich es gestehen; zuletzt dürft\' ich kein lateinisch Buch mehr ansehen, keine Zeichnung einer italienischen Gegend. Die Begierde, dieses Land zu sehen, war überreif: da sie befriedigt ist, werden mir Freunde und Vaterland erst wieder recht aus dem Grunde lieb und die Rückkehr wünschenswert, ja um desto wünschenswerter, da ich mit Sicherheit empfinde, daß ich so viele Schätze nicht zu eignem Besitz und Privatgebrauch mitbringe, sondern daß sie mir und andern durchs ganze Leben zur Leitung und Fördernis dienen sollen. [...] je 1813/14)
Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise [Auszug]
[...] In Assisi, Oktober 1786
Ich verließ Perugia an einem herrlichen Morgen und fühlte die Seligkeit, wieder allein zu sein. Die Lage der Stadt ist schön, der Anblick des Sees höchst erfreulich. Ich habe mir die Bilder wohl eingedrückt. Der Weg ging erst hinab, dann in einem frohen, an beiden Seiten in der Ferne von Hügeln eingefaßten Tale hin, endlich sah ich Assisi liegen.
Aus Palladio und Volkmann wußte ich, daß ein köstlicher Tempel der Minerva, zu Zeiten Augusts gebaut, noch vollkommen erhalten dastehe. Ich verließ bei Madonna del Angelo meinen Vetturin1, der seinen Weg nach Foligno verfolgte, und stieg unter einem starken Wind nach Assisi hinauf, denn ich sehnte mich, durch die für mich so einsame \'Welt eine Fußwanderung anzustellen. Die ungeheueren Substruktionen der babylonisch übereinander getürmten Kirchen, wo der heilige Franziskus ruht, ließ ich links mit Abneigung, denn ich dachte mir, daß darin die Köpfe so wie mein Hauptmannskopf 2 gestempelt würden. Dann fragte ich
Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur Seite 15
einen hübschen Jungen nach der Maria della Minerva; er begleitete mich die Stadt hinauf, die an einen Berg gebaut ist. Endlich gelangten wir in die eigentliche alte Stadt, und siehe, das löblichste Werk stand vor meinen Augen, das erste voll ständige Denkmal der alten Zeit, das ich erblickte. Ein bescheidener Tempel, wie er sich für eine so kleine Stadt schickte, und doch so vollkommen, so schön gedacht, daß er überall glänzen würde. Nun vorerst von seiner Stellung! Seitdem ich in Vitmv 3 und Palladio4 gelesen, wie man Städte bauen, Tempel und öffentliche Gebäude stellen i müsse, habe ich einen grollen Respekt vor solchen Dingen. Auch hierin waren die Alten so groß im Natürlichen. Der Tempel steht auf der schönen mittlern Höhe des Berges, wo eben zwei Hügel zusammentreffen, auf dem Platz, der noch jetzt ,,der Platz\" heißt.
Dieser steigt selbst ein wenig an, und es kommen auf demselben vier Straßen zusammen, die ein sehr gedrücktes Andreaskreuz machen, zwei von unten herauf, zwei von oben herunter. Wahrscheinlich standen zur alten Zeit die Häuser noch nicht, die jetzt, dem Tempel gegenüber gebaut, die Aussicht versperren. Denkt man sie weg, so blickte man gegen Mittag in die reichste Gegend, und zugleich würde Minervens Heiligtum von allen Seiten her gesehen. Die Anlage der Straßen mag alt sein; denn sie folgen aus der Gestalt und dem Abhange des Berges. Der Tempel steht nicht in der Mitte des Platzes, aber so J gerichtet, daß er dem von Rom Heraufkommenden verkürzt gar schön sichtbar wird.
Nicht allein das Gebäude sollte man zeichnen, sondern auch die glückliche Stellung.
An der Fassade konnte ich mich nicht satt sehen, wie genialisch konsequent auch hier der Künstler gehandelt. Die Ordnung ist korinthisch, die Säulenweiten etwas über zwei Madel. Die Säulenfülle und die Platten darunter scheinen auf Piedestalen zu stehen, aber es scheint auch nur; denn der Sockel ist fünfmal durchschnitten, und jedesmal gehen fünf Stufen zwischen den Säulen hinauf, da man denn auf die Fläche gelangt, worauf eigentlich die Säulen stehen, und von welcher man auch in den Tempel hineingeht. Das Wagstück, den Sockel zu durchschneiden, war hier am rechten Platte, denn da der Tempel am Berge liegt, so hätte die Treppe, die zu ihm hinaufführte, vielzu weit vorgelegt werden müssen und würde den Platz verengt haben. Wieviel Stufen noch unterhalb gelegen, läßt sich nicht bestimmen; sie sind außer wenigen verschüttet und zu gepflastert.
Ungern riß ich mich von dem Anblick los und nahm mir vor, alle Architekten auf dieses Gebäude aufmerksam zu machen, damit uns ein genauer Riß davon zukäme [...]
(e 1813/14)
Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise (Auszug)
Neapel, Dienstag, den 20. Mai 1787.
Die Kunde einer soeben ausbrechenden Lava, die, für Neapel unsichthar, nach Ottajano hinunterfließt, reizte mich, zum dritten Male den Vesuv zu besuchen. Kaum war ich am Fuße desselben aus meinem zweirädrigen, einpferdigen Fuhrwerk gesprungen, so zeigten sich schon jene beiden Führer, die uns früher hinaufbegleitet hatten. Ich wollte Leinen missen und nahm den einen aus Gewohnheit und Dankbarkeit, den andern aus Vertrauen, beide der mehreren Bequemlichkeit wegen mit mir.
Auf die Höhe gelangt, blieb der eine bei den Mänteln und Viktualien, der jüngere folgte mir, und wir gingen mutig auf einen ungeheuren Dampf los, der unterhalb des Kegelschlundes aus dem Berge brach; sodann schritten wir an der selben Seite her gelind hinabwärts, bis wir endlich unter klarem Himmel aus dem wilden Dampfgewolke die Lava hervorquellen sahen.
Man habe auch tausendmal von einem Gegenstande gehört, das Eigentümliche desselben spricht nur zu uns aus dem unmittelbaren Anschauen. Die Lava war schmal, vielleicht nicht breiter als zehn Fuß, allein die Art, wie sie eine sanfte, ziemlich ebene Fläche hinabfloß, war auffallend genug; denn indem sie während des Fortfließens; an den Seiten und an der Oberfläche verkühlt, so bildet sich ein Kanal, der sich immer erhöht, weil das geschmolzene Material auch unterhalb des Feuerstroms erstarrt, welcher die auf der Oberfläche schwimmenden Schlacken rechts und links gleichförmig hinunterwirft, wodurch sich denn nach und nach ein Damm erhöht, auf welchem der Glutstrom ruhig fortfließt wie ein Mühlbach. Wir gingen neben dem ansehnlich erhöhten Damme her, die Schlacken rollten regelmäßig an den Seiten herunter bis zu unsren Füßen. Durch einige Lücken des Kanals konnten wir den Glutstrom von unten sehen und, wie er weiter hinabfloß, ihn von oben beobachten.
Durch die hellste Sonne erschien die Glut verdüstert, nur ein mäßiger Rauch stieg in die reine Luft. Ich hatte Verlangen, mich dem Punkte zu nähern, wo sie aus dem Berge bricht; dort sollte sie, wie mein Führer versicherte, sogleich Gewölb und Dach über sich her bilden, auf welchem er öfters gestanden habe. Auch dieses zu sehen und zu erfahren, stiegen wir den Berg wieder hinauf, um jenem Punkte von hintenher beizukommen.
Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur Seite 16
Glücklicherweise fanden wir die Stelle durch einen lebhaften Windzug enthüllt, freilich nicht ganz, denn ringsum qualmte der Dampf aus tausend Ritzen, und nun standen wir wirklich auf der breiartig gewundenen, erstarrten Decke, die sich aber so weit vorwärts erstreckte, daß wir die Lava nicht konnten herausquellen sehen.
Wir versuchten noch ein paar Dutzend Schritte, aber der Boden ward immer glühender; sonneverfinsternd und erstickend wirbelte ein unüberwindlicher Qualm. Der vorausgegangene Führer kehrte bald um, ergriff mich, und wir entwanden uns diesem Höllenstrudel.
Nachdem wir die Augen an der Aussicht, Gaumen und Brust aber am Weine gelabt, gingen wir umher, noch andere Zufälligkeiten dieses mitten im Paradies aufgetürmten Höllengipfels zu beobachten. Einige Schlünde, die als vulkanische Essen keinen Rauch, aber eine glühende Luft fortwährend gewaltsam ausstoßen, betrachtete ich weiter mit Aufmerksamkeit. Ich sah sie durchaus mit einem tropfsteinartigen Material tapeziert, welches zitzen- und zapfenartig die Schlünde bis oben bekleidete. Bei der Ungleichheit der Essen fanden sich mehrere dieser herabhängenden Dunstprodukte ziemlich ich zur Hand, so daß wir sie mit unsern Stäben und einigen hakenartigen Vorrichtungen gar wohl gewinnen konnten. Bei dem Lavahändler hatte ich schon dergleichen Exemplare unter der Rubrik der wirklichen Laven gefunden, und ich freute mich, entdeckt zu haben, daß es vulkanischer Ruß sei, abgesetzt aus den heißen Schwaden, die darin enthaltenen verflüchtigten mineralischen Teile offenbarend.
[...]
(e 1813/14)
Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise (Auszug)
[...] Den 10. November 1786.
Ich lebe nun hier mit einer Klarheit und Ruhe, von der ich lange Lein Gefühl hatte.
Meine Übung, alle Dinge, wie sie sind, zu sehen und abzulesen, meine Treue, das Augenlicht sein zu lassen, meine völlige Entäußerung von aller Prätention kommen mir einmal wieder recht zustatten und machen mich im stillen höchst glücklich. Alle Tage ein neuer merkwürdiger Gegenstand, täglich frische, große, seltsame Bilder und ein Ganzes, das man sich lange denkt und träumt, nie mit der Einbildungskraft erreicht.
Heute war ich bei der Pyramide des Cestius und abends auf dem Palatin, oben auf den Ruinen der Kaiserpaläste, die wie Felsenwände dastehn. Hiervon läßt sich nun freilich nichts überliefern! Wahrlich, es gibt hier nichts Kleines, wenn auch wohl hier und da etwa; Scheltenswertes und Abgeschmacktes; doch auch ein solches hat teil an der allgemeinen Großheit genommen.
Kehr\' ich nun in mich selbst zurück, wie man doch so gern tut bei jeder Gelegenheit, so entdecke ich ein Gefühl, das mich unendlich freut, ja, das ich sogar auszusprechen 15 wage. Wer sich mit Ernst hier umsieht und Augen hat zu sehen, muß solid werden, er muß einen Begriff von Solidität fassen, der ihm nie so lebendig ward.
Der Geist wird zur Tüchtigkeit gestempelt, gelangt zu einem Ernst ohne Trockenheit, zu einem gesetzten Wesen mit Freude. Mir wenigstens ist es, als wenn ich die Dinge dieser Welt nie so richtig geschätzt hätte als hier. Ich freue mich der gesegneten Folgen auf mein ganzes Leben.
Und so laßt mich aufraffen, wie es kommen will, die Ordnung wird sich geben. Ich bin nicht hier, um nach meiner Art zu genießen; befleißigen will ich mich der großen Gegenstände, lernen und mich ausbilden, ehe ich vierzig Jahre alt werde. [...]
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