(Ich habe in meiner Interpretation die verwendeten sprachlichen Mittel und die damit verbundenen Intentionen der Autorin genauer betrachtet.)
Der mir vorliegende Text, eine Kurzgeschichte von Margret Steenfatt, handelt von einem Jungen namens Achim, der von seinen Eltern als Nichts, als ein Niemand angesehen wird. Als ihm die Eltern dies sagten, stellt er sich vor einen Spiegel und malt sein Spiegelbild an. Danach zerschlägt Achim den Spiegel, verletzt sich hierbei an der Hand und verläßt das Zimmer.
Die Tatsache, daß "Im Spiegel" eine Kurzgeschichte ist, läßt sich anhand einiger hervorstechen¬der Merkmale beweisen:
Der Einstieg in die Kurzgeschichte erfolgt direkt und ohne Einleitung, der Leser wird, wie für dieses Genre üblich, sofort in das Geschehen hineinversetzt. Die Handlung verläuft linear auf einen Wendepunkt, die Zerstörung des Spiegels, zu, ohne genauere Beschreibungen zu Charakter der Hauptperson, Ort oder Zeit zu machen, wobei immer noch die Begrenzung von Ort und Zeit zu erkennen ist. In auktorialer Erzählweise und einfacher, metaphorischer Sprache berichtet die Autorin von einem wichtigen Moment im Leben des Protagonisten, läßt den endgültigen Ausgang der Geschichte aber offen. Sie versucht weiterhin mit einer bildhaften Erzählweise (z.B.: "Er robbte zur Wand, ..."; "...lang, knochig, graue Augen im blassen Gesicht, hellbraune Haare, glanzlos.") und unter Verwendung verschiedener sprachlicher Mittel dem Rezipienten ihre eigenen Gefühle und Beweggründe erlebbar, nachvollziehbar zu machen und mit wenig Text viel auszusagen. Zuerst fällt dem Leser die Epipher am Textanfang auf (\"Du kannst nichts\", \"Du machst nichts\", \"aus dir wird nichts\", \"Nichts. Nichts. Nichts\"): diese Häufung des Wortes \"nichts\" soll eine Einschätzung der Eltern über den Helden darstellen und besondere Aufmerksamkeit darauf lenken, wie seine jetzige Erscheinung, sein \"Ich\" angesehen wird. Damit wird gleichzeitig der Grund für seine weiteren Handlungen angegeben.
Die Selbsteinschätzung des Jungen wird im dritten Absatz der Kurzgeschichte besonders deutlich: die von Margret Steenfatt verwendeten Metaphern ("Ein unbeschriebenes Blatt Papier, ein ungemaltes Bild, eine tonlose Melodie, ein ungesagtes Wort, 15 ungelebtes Leben.") sind Ausdruck seiner von außen gesehenen Persönlichkeit, des Nichts. Die Hauptperson ist oberflächlich betrachtet ausdruckslos (ungemaltes Bild), ruft bei anderen keine Gefühle hervor, hat keine Einstellung und Meinung zu irgend etwas (ungesagtes Wort), besitzt keine Persönlichkeit und geht somit letztendlich völlig in der Masse unter. Die drei letztgenannten Beispiele sind Oxymorone, denn sie sind jeweils ein Widerspruch in sich, und legen dar, wie gegensätzlich die Selbsteinschätzung ist, denn jeder Mensch hat eine Persönlichkeit, ein Wesen. Anhand der eingesetzten Ellipse ("..., 15 ungelebtes Leben.") wird anschaulich, wie unbedeutend Achim die bisher gelebte Zeit ist, es ist ihm anscheinend gleich ob es Jahre, Monate oder Wochen sind, sein anscheinend wenig aufregendes Leben hat er bis dato nur "vor sich dahin gelebt"; das Fehlen des Wortes "Jahre" läßt darauf schließen. Auffällig ist der parataktische Satzbau im ersten Drittel des Textes; er liefert nur kurze Beschreibungen ohne Tiefgang und zeigt, daß der Held in seiner Eigenbetrachtung oberflächlich ist und dies erst ablegt, als er sich genauer vor dem Spiegel mustert. Von diesem Zeitpunkt an treten Akkumulationen ("...lang, knochig, graue Augen im blassen Gesicht, hellbraune Haare, glanzlos."; "Straßen, Häuser, Läden, Autos, Passanten,..."; "...über Wangen, Augen, Stirn und Schläfen...") auf und Hypotaxen nehmen zu. Beides offenbart, daß der Protagonist sich genauer ansieht, dabei mehr ins Detail geht und beginnt die Einschätzung anderer nicht mehr als treffend anzunehmen.
In Steenfatts "Im Spiegel" besitzen die im Text erwähnten Farben eine besondere Bedeutung: sie verkörpern die Entwicklung des Helden im Verlauf der Erzählung. Zu Beginn ist oft von der Farbe weiß die Rede, sie steht für das Nichts, die Beurteilung der Gesellschaft über den Jungen - er ist ein Nichts, so wie er gegenwärtig ist. Da sein jetziges Ich nicht akzeptiert wird, malt er seinem Spiegelbild eine Maske auf, tritt ein Stück zur Seite und erblickt wieder sein wahres Ich. An diesem Punkt erkennt der Protagonist, daß er sich nicht verändern kann, sondern nur er selbst sein kann, worauf er den Spiegel zerschlägt. Das Blut, das aus der entstandenen Verletzung tropft, leckt er ab und verwischt es sich unterdessen ungewollt im Gesicht. Die blutrote Färbung seines Gesichtes ist ein Symbol für seine eigene Farbe, die Farbe seines Blutes, er ist also kein Nichts, sondern ein Jemand. Der kaputte Spiegel, den schon die Überschrift in eine besondere Stellung hebt, Symbol für die oberflächliche Gesellschaft, ist zerstört; der Held bekennt sich zum Leben und zu sich selbst, was durch das Blut repräsentiert wird. Er kehrt sich vom Spiegel ab und geht zu Gleichgesinnten.
Diese Kurzgeschichte verlangt vom Rezipienten die Intentionen der Autorin genauer zu ergründen. Auf den ersten Blick ergibt der Text wenig Sinn, nur wenn man die verwendeten Metaphern entschlüsselt, kommt die Kritik an der Oberflächlichkeit und der häufigen Mißachtung der inneren Werte in der Gesellschaft zum Vorschein. "Im Spiegel" hat mir persönlich sehr gefallen, da die Kompaktheit der Erzählung verbunden mit der Menge an sprachlichen Bildern immer wieder neue Deutungsmöglichkeiten zuläßt und Diskussionsstoff bietet.
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