Die Folgen der Erziehung, die die Kinder "genießen" sind zahlreich, jedoch unterschiedlich offensichtlich. Am deutlichsten wird Wedekinds Kritik im Tod von Wendla mit der vorangegangenen ungewollten Schwangerschaft und in Moritz' Selbstmord, deren Ursachen und Umstände bereits erläutert wurden.
Die Eltern geben ihre Beschädigungen an ihre Kinder weiter. Sie stiften somit qua Erziehung eine Deformationskette Im Stück wird das an Thea und Martha deutlich. Die beiden Mädchen entwerfen absolut konträre Erziehungspläne zu der Erziehung, die ihnen zuteil wurde, für die Erziehung ihrer eigenen Kinder. Martha verfolgt einen im Grunde antiautoritären Ansatz; Thea hat die Überzeugung, mit Kindern könne man machen, was man wolle. Die Willkür der Eltern und die damit verbundene Willenlosigkeit der Kinder scheint sie stark beeinflusst zu haben:
Martha. "Wenn ich einmal Kinde habe, ich lasse sie aufwachsen wie das Unkraut in unserem Blumengarten. Um das kümmert sich niemand, und es steht so hoch, so dicht - während die Rosen in den Beeten an ihren Stöcken mit jedem Sommer kümmerlicher blühn.
Thea. Wenn ich Kinder habe, kleid ich sie ganz in Rosa, Rosahüte, Rosakleidchen, Rosaschuhe. Nur die Strümpfe - die Strümpfe schwarz wie die Nacht! Wenn ich dann spazieren gehe, lass ich sie vor mir hermarschieren." (14/22ff)
Zudem können die Mädchen ihr eigenes Geschlecht, ihre Weiblichkeit nicht akzeptieren. Aus der Erfahrung des gesellschaftlichen Rollenverständnisses, dem gemäß sie minderwertig neben den Jungen gelten, wären die Mädchen lieber männlich und wünschen sich auch eines Tages lieber Jungen als Mädchen.
Martha. [...] Lieber zwanzig Jungens als drei Mädchen.
Thea. Mädchen sind langweilig!
Martha. Wenn ich nicht schon ein Mädchen geworden wäre, ich würde es heute gewiss nicht mehr. (15/3ff)
Theas Meinung beweist, dass sie sich in eine Rollenpersonalität gepresst fühlt, die sie gar nicht sein will. Die Möglichkeit, sich nicht "langweilig" zu verhalten, kommt ihr gar nicht. Mädchen sind eben wie Mädchen nun mal sind, und da scheint sich auch nichts ändern zu lassen. Ihre ganz persönliche Möglichkeit der Einflussnahme auf dieses Rollenverständnis erkennt sie nicht.
Ebenso der Junge Moritz, dessen Kinder einst ohne Sexualtabus aufwachsen sollen, distanziert sich von der Erziehung seiner Eltern. Die Jungen sollen vom Elternhaus abhängig bleiben und möglichst keine Eigenständigkeit entwickeln. Dies führt bei Melchior dazu, dass er verantwortliches Handeln nicht kennt. Gegenüber Wendla hätte er anders gehandelt, wenn ihm diese Fähigkeit in der Erziehung nicht versagt worden wäre. Hinsichtlich der ihm wohlbekannten Folgen handelt er absolut verantwortungslos. Das Verhalten der Jungen in der Korrektionsanstalt manifestiert eine Rohheit, die aus dem mangelnden Zugeständnis des Geschlechtstriebes resultiert.
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