Um die Kritikpunkte Wedekinds an der Erziehungspraxis in Schule und Elternhaus, die er in seinem Stück "Frühlings Erwachen" zum Ausdruck bringt, besser verstehen zu können, ist es zuerst notwendig, die pädagogische Situation im ausgehenden 19. Jahrhundert mit all ihren Erziehungsansichten und -normen vor Augen zu führen. Autoritätshörigkeit, Unterordnung und Kritikverbot, drei Grundsätze der damaligen Erziehung sollen nun im Vorfeld erläutert werden, bevor auf spezifische Aspekte der Erziehung (schulisch, häuslich, religiös, sexuell) im Detail eingegangen wird. Diese Grundsätze stellen die Grundlage der Erziehung der Jugend dar und begründen so jede weitere Erziehungspraxis dieser Jahre. Zum Einen galt "alles, was uns heute als beneidenswerter Besitz erscheint, die Frische, das Selbstbewusstsein, die Verwegenheit, die Neugier, die Lebenslust der Jugend [..
.] jener Zeit, die nur Sinn für das ,Solide' hatte, als verdächtig." Alles Bestehende in Staat und Gesellschaft war als das Vollkommene, in alle Ewigkeit Gültige zu respektieren; Widerspruch oder Kritik standen der Jugend nicht zu, die Autorität war unanfechtbar. Zum Anderen war darauf zu achten, "dass junge Leute es nicht zu bequem haben sollten." Vollkommene Fügsamkeit wurde den Heranwachsenden, die "im Leben noch nichts geleistet hatten" , als Erstes abverlangt, bevor sie in den Genuss irgend welcher Rechte kommen würden. Leistung gewährte das Existenzrecht, untertänigste Dankbarkeit für alles gnädig Zugestandene wurde von den Unmündigen erwartet.
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