Ich möchte euch heute das "Erdbeben von Chili" von Heinrich von Kleist vorstellen. Die Novelle ist eines seiner ersten Werke, und sogar das erste, das zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde. Verfasst wurde das Werk 1806 und es wurde erstmals 1807 unter dem Titel "Jeronimo und Josephe. Eine Szene aus dem Erdbeben zu Chili 1648" im Stuttgarter "Morgenblatt für gebildete Stände" veröffentlicht. 1810 wurde es dann unter seinem heutigen Titel selbstständig gedruckt.
Die Novelle besteht aus drei Teilen: Dem Anfang, bestehend aus einer Einleitung und zwei Rückblenden, dem Mittelteil und dem Schlussteil.
Die Hauptpersonen sind Jeronimo und Josephe.
Das Stück beginnt in einem Gefängnis in St. Jago de Chili, in dem Jeronimo Rugera, ein junger spanischer Lehrer, gerade im Begriff ist, Selbstmord zu begehen. Nun kommt der erste Rückblick und man erfährt wie es zu dieser Situation gekommen ist.
Jeronimo hat als Lehrer im Hause der Asterons gearbeitet und die Tochter des Hauses, nämlich Josephe, unterrichtet wobei sich die beiden ineinander verlieben. Als Josephes Vater, der Edelmann Don Henrico Asteron, von Josephes Bruder über die Beziehung in Kenntnis gesetzt wird, entlässt er den Lehrer und schickt zudem Josephe in ein Kloster, um seinen Ruf zu retten. Aber das Liebespaar schafft es auch, sich im Kloster zu treffen. Das stellt sich heraus, als Josephe an Fronleichnam mit Wehen im Kloster zusammenbricht. Zur Bestrafung wird Jeronimo ins Gefängnis geworfen und Josephe, die mittlerweile ihr Kind Philip zur Welt gebracht hat, soll verbrannt werden. Mit Hilfe einer Äbtissin, die Josephe gerne mochte, kann der vorgesehene Feuertod noch in eine Enthauptung verwandelt werden.
Nun knüpft Kleist wieder an die zuvor beschriebene Situation im Gefängnis an. Als Jeronimo die Glocken hört, die darauf hinweisen, dass Josephes Enthauptung nun beginnen wird, findet er zufällig einen Strick in seiner Zelle und er beschließt sich umzubringen. Doch genau zu dem Zeitpunkt, in dem er sich umbringen will, passiert das Erdbeben. Jeronimo kann aus dem Gefängnis fliehen, da durch das Zusammenprallen verschiedener Häuser ein Loch in seiner Zelle entsteht. Er wird quasi von den einstürzenden Häusern durch die ganze Stadt gejagt, bis er schließlich bei den Stadttoren in Ohnmacht fällt. Als er wieder bei Bewusstsein ist, bekommt er die Auskunft, dass Josephe hingerichtet worden sei. Nun scheint ihm Gott, dem er zuvor noch für seine gelungene Flucht gedankt hat, ein fürchterliches Wesen zu sein. Doch kurze Zeit später entdeckt er Josephe mit ihrem Sohn an einer Wasserquelle. Nun folgt der zweite Rückblick, denn Josephe erzählt Jeronimo, wie sie das Erdbeben miterlebt hat. Als sie hingerichtet werden sollte, passierte nämlich das Erdbeben. Die Zuschauer der Hinrichtung rannten voller Angst weg und auch Josephe gelang die Flucht. Auch sie flüchtete zu den Toren der Stadt, aber hier denkt sie an ihren Sohn, den man im Kloster aufgenommen hatte. Sie rannte nun dorthin und rettete Philip aus dem brennenden Kloster. Mit dem Kind auf dem Arm rettete sie sich schließlich wieder zu Stadttor, wo sie auch Jeronimo fand.
Nun beginnt der Mittelteil der Novelle - die gemeinsame Geschichte der beiden. Das Liebespaar legt sich unter einen Granatapfelbaum und sie genießen es, dass sie endlich wieder beisammen sind. Hier beschließen sie auch, nach Spanien, Jeronimos Heimat, auszuwandern. Sie begegnen nun Don Fernando, einen Freund der Familie Asteron, der Josephe bittet, seinem Sohn Juan Milch zu geben, da Juans Mutter Donna Elvire zu verletzt dazu sei. Diese Bitte erfüllt Josephe gerne und sie und Jeronimo werden von der Familie freundlich in ihren Kreis aufgenommen. Es scheint, als wäre alles vergessen, was vor dem Erdbeben geschehen ist. Josephe und Jeronimo beschließen nun, doch weiterhin in Chili zu leben. Nun erfahren die Leute, dass eine Messe in der Dominikanerkirche der Stadt gehalten werden soll, zu der sie schließlich aufbrechen.
In der Predigt bezeichnet der Chorherr das Erdbeben als Bestrafung Gottes - so wie Gott in der Bibel auch Sodom und Gomorra vernichtet hat. Die Gemeinde dankt deshalb Gott für seine Gnade, dass sie trotz ihrer Fehler nicht völlig vernichtet worden sind. Gegen Ende der Predigt erwähnt der Chorherr die Liebe zwischen Jeronimo und Josephe und gibt ihnen letztendlich die Schuld am Zorn Gottes. Die Gesellschaft um Don Fernando will deshalb schnell die Kirche verlassen. Doch Josephe wird erkannt und man hält Don Fernando für den Vater des Kindes. Sie fliehen aus der Kirche heraus, werden jedoch von der Meute eingeholt. Am Klostervorplatz angekommen, wird Jeronimo von seinem eigenen Vater verraten und getötet. Auch Donna Constanze, die zur Gesellschaft um Don Fernando gehört, wird im Massaker für Josephe gehalten und ermordet. Statt die Möglichkeit zur Flucht zu nutzen, wirft sich Josephe freiwillig in die Menschenmenge, was ebenfalls ihren Tod bedeutet. Ihren Sohn Philip gibt sie jedoch zuvor als zweites Kind Don Fernandos aus und kann ihn somit retten. Die Menschenmenge glaubt dies allerdings nicht, und ein Mann namens Meister Pedrillo greift Don Fernando, der beide Kinder auf dem Arm hat, an. Der Kampf führt schließlich zum Tod von Juan, während Philip überlebt. Zuletzt erfährt man, dass Donna Elvire und Don Fernando Philip als Pflegesohn annehmen.
Diese Novelle fand zu seiner Zeit kaum Beachtung. Die Kritiker nannten als Grund den unbeirrbaren sachlichen Stil der Erzählung. Kleist berichtet meist nur das, was geschehen ist und nichts weiter. Er verbietet sich jegliche Einmischung und Deutung über das Erzählte. Wolfgang Kayser sagte einmal, dass Kleist mit dem Rücken zum Publikum steht und es nicht beachtet. Doch bei näherem Betrachten fällt auf, dass der Erzähler keineswegs eine neutrale Stellung einnimmt. Er verhält sich oft wertend, aber so, dass es der Leser nicht sofort mitbekommt.
Er verwendet oft positiv wertende Akzente zugunsten des unglücklichen Paares. So spricht er zum Beispiel von einem "zärtlichen Einvernehmen" wenn er ausdrücken will, dass die beiden sich lieben. Außerdem bezeichnet er die Tatsache, dass es Jeronimo geglückt ist, im Kloster von neuem Kontakt mit Josephe aufzunehmen, als "glücklichen Zufall", was deutlich seine positive Haltung dem Paar gegenüber zeigt. Josephe nennt er eine "junge Sünderin", wobei das Wort "jung" den harten Ausdruck Sünderin noch ein wenig abschwächen kann.
Über die Gesellschaft hingegen spricht er durchgehend abwertende. Folie 1 ! Durch diese negativen Begriffe gelingt es Kleist, dem Leser die Unmenschlichkeit der Bevölkerung zu verdeutlichen.
Die Novelle ist nach Art eines Triptychons aufgebaut. Folie 2 !
Nun möchte ich näher auf den Schreibstil Kleists in "Das Erdbeben von Chili" eingehen. Im Gesamtbild gesehen kann man sagen, dass die Novelle im Ton einer Berichterstattung geschrieben ist. Nur die wichtigsten Dinge werden beschrieben, auf Details wird größtenteils verzichtet. Lediglich im Mittelteil, also bei der Szene an der Talquelle, beschreibt Kleist Details. Folie 3 ! Man kann davon ausgehen, dass Kleist dadurch die Stimmung Jeronimos und Josephes ausdrücken möchte, nachdem sie nach der Katastrophe wieder zueinander gefunden haben.
Nun möchte ich euch einmal die Hektik in Kleists Schreibstil verdeutlichen, die er zu Beginn und am Ende des Stückes zeigt. Folie 4 ! Schon der erste Satz liefert eine Unmenge an Informationen und es scheint als wolle der Autor darüber hinwegeilen.
Vor allem am Ende, also als es zur Ermordung Jeronimos und Josephes kommt, wird die Dramatik der Szenerie durch den hektischen Schreibstil noch zusätzlich verstärkt.
Insgesamt kann man sagen, dass Kleist sehr gerne lange, komplexe Sätze verwendet (vgl. Marquise von O), mit denen er den Leser auffordern will, des Zusammenhang zu verstehen.
Auffällig ist, dass Kleist in dieser Novelle häufig biblische Motive verwendet.
Zunächst einmal setzt der Chorherr am Ende seiner Predigt das Erdbeben mit der Apokalypse, also dem Weltgericht in Analogie, als er sagt: "Das Weltgericht kann nicht entsetzlicher sein"
Auffällig ist außerdem, dass man die Hauptdarsteller Jeronimo, Josephe und Philip mit der "heiligen Familie" Joseph, Maria und Jesus vergleichen kann. Schon allein die Namensähnlichkeit zwischen Josephe und Joseph lässt darauf schließen, dass Kleist Parallelen ziehen wollte.
Zudem kann man sagen, dass Josephe unschuldig ist, genau wie die Jungfrau Maria an ihrer Schwangerschaft. Denn Josephe kann ja schließlich nichts für ihre Liebe zu Jeronimo. Gegen Gefühle ist man ja bekanntlich machtlos.
Als Jeronimo seine Geliebte Josephe mit dem Sohn das erste Mal wiedersieht, ruft er : "Oh Mutter Gottes, du Heilige". Auch diesen Ausruf kann man in dieser Hinsicht interpretieren.
Auffällig ist auch die Beziehung Philip - Jesus
- Philip wurde genau an Fronleichnam, dem Tag, an dem man die Menschwerdung Jesu feiert, geboren.
- Man kann auch seinen Namen in religiöser Hinsicht deuten. Kleist könnte ihn nach der Stadt Philippi benannt haben. Denn in der Bibel ist beschrieben, dass hier ähnliches wie in der Novelle passiert sein soll: Paulus und Silas waren im Gefängnis eingesperrt, dann setzte ein Erdbeben ein, wodurch die beiden aus dem Gefängnis flüchten konnten
Eine biblische Parallele setzt Kleist, als er das Tal vor der Stadt St. Jago, in dem sich die Überlebenden befinden, mit dem Tal von Eden vergleicht, denn es war "als ob es das Tal von Eden gewesen wäre"
Auch der Granatbaum hat eine bildliche Bedeutung:
- christliche Tradition: Motiv für die Mariensymbolik, was zeigt, dass Kleist Josephe und Maria in Analogie setzt
- griechische Mythologie: Symbol für den Tod, was man als eine Vorschau auf das tragische Ende deuten könnte
Bei diesem Stück drängt sich dem Leser ständig die Frage auf, ob der Zufall oder das Schicksal, also der Wille Gottes, entscheidet, wer überlebt und wer stirbt. Schon zu Beginn des Stückes ist dies der Fall. Der Moment, der für Tausende zu Tod führt gibt dem einen, der mit dem Leben schon abgeschlossen hat, die Freiheit und somit das Leben zurück. Es stellt sich also nun die Frage, ob das Leben eines einzelnen mehr Gewicht hat, als das von tausenden anderen, die durch das Erdbeben ihr Leben verloren haben.
Überhaupt spielt der Zufall in "Das Erdbeben von Chili" eine wichtige Rolle. Kleist schreibt, dass Jeronimo nur durch Zufall den Strick findet, mit dem er sich das Leben nehmen will. Und weiter beschreibt er, dass es Jeronimo nur durch eine "zufällige Wölbung" im gegenüberstehenden zusammenfallenden Gebäude gelingt, noch vor dem Einsturz des Gefängnisses zu entfliehen.
Durch das Erdbeben ist auch die Theodizee-Frage wieder von neuem diskutiert worden. Die Menschen fragen sich, warum Gott solch ein Übel auf der Welt zulassen kann. Sie zweifeln plötzlich an ihrer Existenz und an ihrem Gott.
Zuletzt möchte ich noch einmal auf den Hintergrund der Novelle eingehen. Wie der Titel schon sagt, schreibt Kleist in seinem Werk über das Erdbeben, das sich 1647 in St. Jago de Chili ereignet hat. Allerdings weicht er in einigen kleinen, aber dennoch wichtigen Details vom wahren Ablauf dieses Erbebens ab. Bei näherem Betrachten kommt also noch ein weiteres Erdbeben in Frage, nämlich das von Lissabon. Ich möchte nun einmal diese beiden Erdbeben gegenüberstellen und mit den Informationen aus Kleists Werk vergleichen.
Folie 5 !
Man kann also davon ausgehen, dass sich Kleist mit seinem Werk hauptsächlich an das Erdbeben von Lissabon angelehnt hat.
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