Schon von der ersten Seite an war ich fasziniert und gefangen von der farbigen, lebhaften und greifbaren Sprache Urs Widmers. Er beginnt mit einer Beschreibung des Waldes hinter seinem Zuhause, er erzählt von seiner Familie, malt prächtige Bilder von der Landschaft, in der er seine Jugend zugebracht hat. Dann kommt ein plötzlicher Bruch. Man befindet sich wieder in der Gegenwart, doch wo, das weiss der Leser anfänglich noch nicht so genau, man weiss nur, dass der Autor jetzt Erwachsen ist und vorhat, uns von seinem bisherigen Leben zu erzählen.
Urs Widmers Sprache ist zynisch, ist witzig, macht stutzig, bestürzt, traurig doch gleichzeitig kann man sich oftmals das Lachen nicht verkneifen. Und dann die letzte Seite: Man will nicht, dass die Geschichte fertig ist - das kann noch nicht alles gewesen sein! Man legt das Buch zur Seite, die Gedanken driften und plötzlich - plötzlich erkennt man Parallelen. Wie zum Beispiel bei der typischen Antwort von Schwester Anne auf Kunos Liebeserklärungen: \"Da kannst du warten, bis du schwarz wirst\" -- ein Versprechen, das sie auch hält.
Der Aufbau der Story mit den ganzen Parallelen, Verwicklungen, Wiederholungen und Verzerrungen ist schlicht und einfach bewundernswert. Der Leser macht es sich zum Spass, in der Erinnerung nach Passagen zu kramen, die eine zweite Bedeutung haben, eine weniger offensichtliche; er sucht Stellen nochmals, die er beim ersten Mal lesen nicht verstanden hat, nicht verstehen konnte. Auf der anderen Seite zeigt das Buch den 2. Weltkrieg aus der Schweizer Perspektive: Kriegsgewinne, die Sympathie, die den Nazis vielerorts ganz offen entgegengebracht wurde, das Stillschweigen und Vertuschen nach dem Krieg. Manchmal, so möchte man denken, bewegt sich Widmer mit gewisse Äusserungen, vor allem betreffend den Nationalsozialismus, am Rande der Ethik; zum Beispiel, als ein Heiminsasse und Freund von Kunos Vaters dem Pfleger erzählt, er habe sich mit Hitler heillos betrunken: Die scheinbare Gleichgültigkeit des alten Mannes gegenüber dem Krieg macht den Leser betroffen, er stört sich an dieser Lässigkeit, mit der diese menschliche Katastrophe abgehandelt wird. Frühzeitig jedoch greift Widmer ein und lässt Kuno ausrufen: "Wie kannst Du nur so reden?" (S. 70)
Es gehört zu den schönen Eigenheiten dieses Buches, dass es einen, mehr als das meiste, was man liest, auf keiner Seite auch nur ahnen lässt, was sich auf der nächsten ereignen wird. Besonders im langen dritten Teil führt Widmer seine Geschichte derart überraschungsreich um die Ecken, dass ein Kritiker, der die Story ausplauderte, den Leser um die schönste und wichtigste Erfahrung brächte, die er mit diesem Buch machen kann: Früher oder später wird man sich nämlich, falls man das Kind in sich nicht ganz vergessen hat, zu diesem Roman verhalten wie ein Kind zu einem Märchen, in dem das Unwahrscheinlichste wahr und das Unmöglichste möglich wird.
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