KAFKA an Felice Bauer:
24. Oktober 1912
»War das heute eine tüchtig schlaflose Nacht, in der man sich gerade noch zum Schluß, in den letzten zwei Stunden, zu einem erzwungenen, ausgedachten Schlafe zusammendreht, in dem die Träume noch lange nicht Träume und der Schlaf erst recht kein Schlaf ist. Und nun bin ich außerdem vor dem Haustor mit der Trage eines Fleischergesellen zusammengerannt, deren Holz ich noch jetzt über dem linken Auge spüre.«
Briefe an Felice. S. 51.
17. November 1912
»Wieder antworte ich auf nichts, aber Antworten ist eben Sache der mündlichen Rede, durch Schreiben kann man nicht klug werden, höchstens eine Ahnung des Glücks bekommen. Ich werde Dir übrigens heute wohl noch schreiben, wenn ich auch noch heute viel herumlaufen muß und eine kleine Geschichte niederschreiben werde, die mir in dem Jammer im Bett eingefallen ist und mich innerlichst bedrängt. «
Ebd. S. 102.
18. November 1912
»Meine Liebste, es ist ½2 nachts, die angekündigte Geschichte ist bei weitem noch nicht fertig, am Roman [» Amerika« / »Der Verschollene«] ist heute keine Zeile geschrieben worden, ich gehe mit wenig Begeisterung ins Bett. Hätte ich die Nacht frei, um sie, ohne die Feder abzusetzen, durchschreiben zu können bis zum Morgen! Es sollte eine schöne Nacht werden.«
Ebd.
18. November 1912
»Gerade setzte ich mich zu meiner gestrigen Geschichte mit einem unbegrenzten Verlangen, mich in sie auszugießen, deutlich von aller Trostlosigkeit aufgestachelt. Von so vielem bedrängt, über Dich in Ungewissem, gänzlich unfähig, mit dem Bureau auszukommen, angesichts dieses seit einem Tag stillstehenden Romans [»Amerika« / »Der Verschollene«] mit einem wilden Wunsch, die neue, gleichfalls mahnende Geschichte fortzusetzen, seit einigen Tagen und Nächten bedenklich nahe an vollständiger Schlaflosigkeit und noch einiges weniger Wichtige, aber doch Störende und Aufregende im Kopf – [...].«
Ebd. S. 105.
23. November 1912
»Es ist sehr spät in der Nacht, ich habe meine kleine Geschichte weggelegt, an der ich allerdings schon zwei Abende gar nichts gearbeitet habe und die sich in der Stille zu einer größern Geschichte auszuwachsen beginnt. Zum Lesen sie Dir geben, wie soll ich das? selbst wenn sie schon fertig wäre? Sie ist recht unleserlich geschrieben und selbst wenn das kein Hindernis wäre, denn ich habe Dich gewiß bisher durch schöne Schrift nicht verwöhnt, so will ich Dir auch nichts zum Lesen schicken. Vorlesen will ich Dir. Ja, das wäre schön, diese Geschichte Dir vorzulesen und dabei gezwungen zu sein, Deine Hand zu halten, denn die Geschichte ist ein wenig fürchterlich. Sie heißt ›Verwandlung‹, sie würde Dir tüchtig Angst machen und Du würdest vielleicht für die ganze Geschichte danken, denn Angst ist es ja, die ich Dir mit meinen Briefen leider täglich machen muß. [...] Dem Helden meiner kleinen Geschichte ist es aber auch heute gar zu schlecht gegangen und dabei ist es nur die letzte Staffel seines jetzt dauernd werdenden Unglücks.«
Ebd. S. 116.
24. November 1912
»Liebste! Was ist das doch für eine ausnehmend ekelhafte Geschichte, die ich jetzt wieder beiseite lege, um mich in den Gedanken an Dich zu erholen. Sie ist jetzt schon ein Stück über ihre Hälfte fortgeschritten und ich bin auch im allgemeinen mit ihr nicht unzufrieden, aber ekelhaft ist sie grenzenlos und solche Dinge, siehst Du, kommen aus dem gleichen Herzen, in dem Du wohnst und das Du als Wohnung duldest. Sei darüber nicht traurig, denn wer weiß, je mehr ich schreibe und je mehr ich mich befreie, desto reiner und würdiger werde ich vielleicht für Dich, aber sicher ist noch vieles aus mir hinauszuwerfen und die Nächte können gar nicht lang genug sein für dieses übrigens äußerst wollüstige Geschäft.«
Ebd. S. 117.
»Sonntag [24. November 1912] nach dem Mittagessen«
»Heute vormittag war ich bei Baum (kennst Du Oskar Baum? ) wie jeden Sonntag und habe (es war auch Max mit seiner Braut dort) den ersten Teil meiner kleinen Geschichte vorgelesen.«
Ebd. S. 122.
25. November 1912
»Nun muß ich heute, Liebste, meine kleine Geschichte, an der ich heute gar nicht soviel wie gestern gearbeitet habe, weglegen und sie wegen dieser verdammten Kratzauer Reise einen oder gar zwei Tage ruhen lassen. Es tut mir so leid, wenn es auch hoffentlich keine allzuschlimmen Folgen für die Geschichte haben wird, für die ich doch noch 3-4 Abende nötig habe. Mit den nicht allzu schlimmen Folgen meine ich, daß die Geschichte schon genug durch meine Arbeitsweise leider geschädigt ist. Eine solche Geschichte müßte man höchstens mit einer Unterbrechung in zweimal 10 Stunden niederschreiben, dann hätte sie ihren natürlichen Zug und Sturm, den sie vorigen Sonntag in meinem Kopfe hatte. Aber über zweimal zehn Stunden verfüge ich nicht. So muß man bloß das Bestmögliche zu machen suchen, da das Beste einem versagt ist. Aber schade, daß ich sie Dir nicht vorlesen kann, schade, schade [...].«
Ebd. S. 125.
26. November 1912
»Diese ewige Sorge, die ich auch jetzt übrigens noch habe, daß die Reise meiner kleinen Geschichte schaden wird, daß ich nichts mehr werde schreiben können u.s.w. Und mit diesen Gedanken in ein elendes Wetter hinausschauen zu müssen [...].«
Ebd. S. 130.
27. November 1912
»Wirklich Felice, wenn ich so allein in der Nacht hier sitze und wie heute und gestern nicht besonders gut geschrieben habe – es wälzt sich etwas trübe und gleichmüthig fort und die notwendige Klarheit erleuchtet es nur für Augenblicke – [...]. Heute, wo der Roman [»Amerika« / »Der Verschollene«] nun schon über eine Woche ruht und die neue Geschichte zwar zu Ende geht, mich aber seit zwei Tagen glauben machen will, daß ich mich verrannt habe – müßte ich eigentlich noch fester an jenem Entschluß mich halten.«
Ebd. S. 135.
1. Dezember 1912
»Liebste Felice, nach Beendigung des Kampfes mit meiner kleinen Geschichte – ein dritter Teil, aber nun ganz bestimmt (wie unsicher und voll Schreibfehler ich schreibe, ehe ich mich an die wirkliche Welt gewöhne) der letzte, hat begonnen sich anzusetzen – muß ich unbedingt Dir, Liebste, noch Gute Nacht sagen [...].«
Ebd. S. 145.
1. Dezember 19124
»[...] ich bin jetzt endlich bei meiner kleinen Geschichte ein wenig ins Feuer gerathen, das Herz will mich mit Klopfen weiter in sie hineintreiben, ich aber muß versuchen, mich so gut es geht aus ihr herauszubringen und weil das eine schwere Arbeit sein wird und Stunden vergehen werden ehe der Schlaf kommt, muß ich mich beeilen, ins Bett zu gehn. [...]
Liebste, ich möchte gerne etwas Lustiges noch sagen, aber es fällt mir nichts Natürliches ein, auch weinen auf der letzten aufgeschlagenen Seite meiner Geschichte alle 4 Personen oder sind wenigstens in traurigster Verfassung.«
Ebd. S. 147.
3. Dezember 1912
»Liebste, ich hätte heute wohl die Nacht im Schreiben durch- halten sollen. Es wäre meine Pflicht, denn ich bin knapp vor dem Ende meiner kleinen Geschichte und Einheitlichkeit und das Feuer zusammenhängender Stunden täte diesem Ende unglaublich wohl. Wer weiß überdies, ob ich morgen nach der Vorlesung5, die ich jetzt verfluche, noch werde schreiben können. Trotzdem – ich höre auf, ich wage es nicht. Durch dieses Schreiben, das ich ja in diesem regelmäßigen Zusammenhang noch gar nicht so lange betreibe, bin ich aus einem durchaus nicht musterhaften, aber zu manchen Sachen gut brauchbaren Beamten (mein vorläufiger Titel ist Koncipist) zu einem Schrecken meines Chefs geworden. Mein Schreibtisch im Bureau war gewiß nie ordentlich, jetzt aber ist er von einem wüsten Haufen von Papieren und Akten hoch bedeckt, ich kenne beiläufig nur das, was obenauf liegt, unten ahne ich bloß Fürchterliches. Manchmal glaube ich fast zu hören, wie ich von dem Schreiben auf der einen Seite und von dem Bureau auf der andern geradezu zerrieben werde. Dann kommen ja wieder auch Zeiten, wo ich beides verhältnismäßig ausbalanciere, besonders wenn ich zuhause schlecht geschrieben habe, aber diese Fähigkeit (nicht die des schlechten Schreibens) geht mir – fürchte ich – allmählich verloren.«
Ebd. S. 153.
3. Dezember 1912
»Meine Geschichte würde mich nicht schlafen lassen, Du bringst mir mit den Träumen den Schlaf.«
Ebd. S. 154.
Nacht vom 4. zum 5. Dezember 1912
»Ach Liebste, unendlich Geliebte, für meine kleine Geschichte ist nun wirklich schon zu spät, so wie ich es mit Furcht geahnt habe, unvollendet wird sie bis morgen nacht zum Himmel starren [...].«
Ebd. S. 155.
Vermutlich Nacht vom 5. zum 6. Dezember 1912
»Weine, Liebste, weine, jetzt ist die Zeit des Weinens da! Der Held meiner kleinen Geschichte ist vor einer Weile gestorben. Wenn es Dich tröstet, so erfahre, daß er genug friedlich und mit allen ausgesöhnt gestorben ist. Die Geschichte selbst ist noch nicht ganz fertig, ich habe keine rechte Lust jetzt mehr für sie und lasse den Schluß bis morgen. Es ist auch schon sehr spät und ich hatte genug zu tun, die gestrige Störung zu überwinden. Schade, daß in manchen Stellen der Geschichte deutlich meine Ermüdungszustände und sonstige Unterbrechungen und nicht dazugehörige Sorgen eingezeichnet sind, sie hätte gewiß reiner gearbeitet werden können, gerade an den süßen Seiten sieht man das. Das ist eben das ewig bohrende Gefühl; ich selbst, ich mit den gestaltenden Kräften, die ich in mir fühle, ganz abgesehen von ihrer Stärke und Ausdauer, hätte bei günstigern Lebensumständen eine reinere, schlagendere, organisiertere Arbeit fertiggebracht, als die, die jetzt vorliegt. Es ist das ein Gefühl, das keine Vernunft ausreden kann, trotzdem natürlich niemand anderer als die Vernunft recht hat, welche sagt, daß man, ebenso wie es keine andern Umstände gibt als die wirklichen, auch mit keinen andern rechnen kann. Wie das aber auch sein mag, morgen hoffe ich die Geschichte zu beenden und übermorgen mich auf den Roman zurückzuwerfen.«
Ebd. S. 160.
Nacht vom 6. zum 7. Dezember 1912
»Liebste, also höre, meine kleine Geschichte ist beendet, nur macht mich der heutige Schluß gar nicht froh, er hätte schon besser sein dürfen, das ist kein Zweifel.«
Ebd. S. 163.
Nacht vom 10. zum 11. Januar 1913
»Heute im Bett klagte ich zu Dir über diese zwei Verlobungen in einer langen Rede, die Dir gewiß sehr begründet erschienen wäre, jetzt werde ich wohl nicht mehr alles, was angeführt werden müßte, zusammenbringen, und so lasse ich es vielleicht lieber. Du, was für Ansprachen ich an Dich im Bette halte! Wir haben so verschiedene Talente. Ich bin der große Redner im Bett, Du die große Briefschreiberin im Bett.«
Ebd. S. 243.
1. März 1913, 2 Uhr nachts
»Nur paar Worte, Liebste. Ein schöner Abend bei Max. Ich las mich an meiner Geschichte in Raserei. Wir haben es uns dann wohl sein lassen und viel gelacht. Wenn man Türen und Fenster gegen diese Welt absperrt, läßt sich doch hie und da der Schein und fast der Anfang einer Wirklichkeit eines schönen Daseins erzeugen.«
Ebd. S. 320.
Aus KAFKAS Tagebüchern:
20.Oktober 1913
»[...] nun las ich zu Hause ›Die Verwandlung‹ und finde sie schlecht. Vielleicht bin ich wirklich verloren, die Traurigkeit von heute morgen wird wiederkommen, ich werde ihr nicht lange widerstehen können, sie nimmt mir jede Hoffnung. Ich habe nicht einmal Lust, ein Tagebuch zu führen, vielleicht weil darin schon zuviel fehlt, vielleicht weil ich immerfort nur halbe und allem Anschein nach notwendig halbe Handlungsweisen beschreiben müßte, vielleicht weil selbst das Schreiben zu meiner Traurigkeit beiträgt.«
Tagebücher. S. 323.
19. Januar 1914
»Großer Widerwillen vor ›Verwandlung‹. Unlesbares Ende. Unvollkommen fast bis in den Grund. Es wäre viel besser geworden, wenn ich damals nicht durch die Geschäftsreise gestört worden wäre.«
Tagebücher. S. 351.
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