In Anschluß an sein Drama führt Dürrenmatt noch insgesamt "21 Punkte zu den Physikern" an. Anhand einiger dieser theoretischen Punkte möchte ich nun exemplarisch Ansätze zu einer weiterführenden Deutung geben.
(3) "Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat".
Die Katastrophe, die über die Physiker am Ende des Stückes hereinbricht ist eine absolute. Was in den Physikern die Erkenntnis des Möbius ist, ist auf unsere Welt umgelegt das der Atome. Dieses Wissen führte zum Bau von tödlichen Waffen, bisher unbekannten Ausmaßes. Selbst heute, da der Kalte Krieg überwunden ist, würde das weltweite Atomwaffenpotential ausreichen, alles Leben auf der Erde gleich mehrfach auszulöschen. Die schlimmstmögliche Wendung wäre also "der Overkill", das Ende der Menschheitsgeschichte.
(8) "Je planmäßiger Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen".
Möbius geht freiwillig in die Irrenanstalt, um sein Wissen vor der Welt zu schützen. Doch durch diesen Schritt gelangen seine Erkenntnisse in die Hände einer Geisteskranken und genau das, was er vermeiden wollte, tritt ein. Von Physikern wird erwartet, dass sie planmäßig und logisch vorgehen. Newton und Einstein werden von ihren jeweiligen Geheimdiensten monatelang für ihre Mission ausgebildet, doch gegen den Zufall sind sie machtlos. Hält man sich die Geschichte der Atombombe vor Augen, wird klar, was Dürrenmatt damit zum Ausdruck bringen will. Nachdem 1938 die Kernspaltung entdeckt wurde, waren selbst Größen wie Otto Hahn, Ernest Rutherford und Albert Einstein der fälschlichen Annahme, die Idee an eine Bombe entbehre jegliche Realität. Schließlich waren sie es, die mit dem "Manhatten Projekt" die Bombe ermöglichten. Erst im Glauben Hitler zuvorkommen zu müssen, gab es dann kein zurück mehr, auch als schon lange klar war, dass dies alles ein Trugschluss war.
(18) "Jeder Versuch für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern".
Es ist unmöglich für die Physiker das atomare Problem allein zu lösen. Sie versuchen die Gefahr, die die ganze Menschheit bedroht, als kleine Gruppe zu lösen. Das kann aber nach Dürrenmatts Auffassung nicht gut gehen. Entweder alle oder keiner kann ein solches Problem lösen. Er widerspricht indirekt unserem heute so großen Optimismus gegenüber dem technischen Fortschritt. Seiner Ansicht nach sollte der Physiker dem Verbraucher die hochentwickelte Technik vorenthalten. Für den Bürger ist es egal woher der Strom kommt, Hauptsache es gibt Strom. Das dabei radioaktiver Abfall entstehen kann, ist ihm egal. Dem Physiker hingegen ist auch egal was später passiert. Er stellt eine Theorie auf und denkt oft nicht daran was diese zur Folge haben kann. Der Techniker setzt die Theorie des Physikers in die Praxis um ohne darüber nachzudenken, was es damit auf sich hat. An diesem Beispiel der Kette, Physiker - Techniker - Verbraucher ist gut zu sehen, warum Dürrenmatt der Auffassung ist, dass eigenverantwortliches Handeln sinnlos und absurd ist.
(19) "Im Paradoxon erscheint die Wirklichkeit"
Dadurch dass Dürrenmatt die Handlung in ein Irrenhaus verlegt ist das Geschehen von Anfang an grotesk. Paradox wird es aber erst, als die scheinbar irren Physiker verantwortungsbewusst und integer werden, während die Ärztin sich als gefährliche Psychopatin entpuppt. Die Maske der Narrheit, die die Physiker tragen, war schon lange Wirklichkeit, als sie selbst noch glaubten Theater zu spielen. Selbstverständlich ist die Handlung unwahrscheinlich. Sie ist extrem, aber möglich. Dürrenmatts Paradoxa sind spektakulär, aber sie verzichten nie auf den Bezug zur Realität.
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