Des Urbild Werthers ist niemand anders als Goethe selbst, wie er in "Dichtung und Wahrheit", abgesehen von einigen historischen Ungenauigkeiten, treffend schildert.
Er sucht dauernd nach geistigen und seelischen Genüssen, ohne jedoch die Kraft zu besitzen, sich diese zu erringen. Werther steigt voll Liebe zu dem gewöhnlichen Volk und zu Lottes kleinen Geschwistern hinab und beschenkt diese regelmäßig. Trotzdem ist er eines wirklichen Opfers für seine Mitmenschen nicht fähig. Sein Haß gegen das weltliche Treiben ist im Grunde nichts anderes als Haß gegen Arbeit und Unterordnung.
Ein erfreulicheres Bild gewinnen wir, wenn wir Werthers Verhältnis zur Natur betrachten.
In ihr lebt er, ist in innigster Weise mit ihr verbunden. In die Natur flüchtet er sich aber nicht nur zum stillen Genießen, sondern auch, wenn er innerlich vor Wut kocht. So ist ihm die Natur die stille, vertraute Freundin in guten wie in schlechten Zeiten.
Trotz der schweren Verantwortung, die auf Lotte lastet, trotz der vielen Pflichten, die sie übernommen hat, bewahrt sie sich eine gewisse Heiterkeit, einen harmlosen Frohsinn, wodurch sie alle Herzen im Sturm erobert. Nach dem Tode ihrer Mutter ist sie der eigentliche Mittelpunkt der Familie geworden. Sie bewährt sich als Hausfrau und ersetzt den armen Kindern die früh verstorbene Mutter. In der Gesellschaft anderer Leute, namentlich junger Mädchen, zeigt sie eine unverkennbare Überlegenheit. Während aber Werther nicht die Kraft besitzt, Maß zu halten und nur der eigenen Befriedigung nacheilt, bewahrt Lotte jederzeit strengste Mäßigung und Selbstbeherrschung und sie verdient deshalb sehr viel Achtung.
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