Rene Descartes
(aus einem Brief an Guez de Balzac 1631)
In dieser großen Stadt, in der ich mich befinde, da es in ihr außer mir keinen Menschen gibt, der nicht Handel triebe, jeder derart auf seinen Nutzen bedacht, daß ich mein ganzes Leben hier bleiben könnte, ohne je von jemandem aufgesucht zu werden. Ich gehe jeden Tag mitten im Wirrwarr einer großen Bevölkerung mit ebenso viel Freiheit und Ruhe spazieren, wie Sie es in Ihren Alleen tun würden, und betrachte die Menschen, die ich dabei sehe, nicht anders als die Bäume, auf die man in Ihren Wäldern trifft, oder die Tiere, die dort grasen. Selbst das Geräusch ihres Gewerbes unterbricht meine Träumereien nicht mehr, als es das irgendeines Baches tun würde. Wenn ich zuweilen Überlegungen über ihre Tätigkeit anstelle, ziehe ich daraus dasselbe Vergnügen wie Sie bei dem Anblick von Bauern, die Ihre Felder bebauen; denn ich sehe, daß ihre Arbeit dazu dient, die Stätte meines Wohnsitzes zu verschönern und zu bewirken, daß mir dort nichts fehlt. Wenn es Vergnügen bereitet, die Früchte in Ihren Obstgärten wachsen zu sehen und bis zu den Augen im Überfluß zu stehen, so glauben Sie mir, daß es wohl ebenso viel bedeutet, Schiffe hier ankommen zu sehen, die uns reichlich verschaffen, was Indien hervorbringt und was es an Seltenem in Europa gibt. Welchen anderen Ort in der übrigen Welt könnte man wählen, wo alle Bequemlichkeiten des Lebens und alle Merkwürdigkeiten, die man Sich zu wünschen vermöchte, so leicht zu finden sind wie an diesem hier?
Georg Christoph Lichtenberg
(aus einem Brief an Ernst Gottfried Baldinger 1775)
Stellen Sie sich eine Strase vor etwa so breit als die Weender, aber, wenn ich alles zusammen nehme, wohl auf 6mal so lang. Auf beyden Seiten hohe Häuser mit Fenstern von Spiegel Glas. Die untern Etagen bestehen aus Boutiquen und scheinen gantz von Glas zu seyn; viele tausende von Lichtern erleuchten da Silberläden, Kupferstichläden, Bücherläden, Uhren, Glas, Zinn, Gemählde, Frauenzimmer-Putz und Unputz, Gold, Edelgesteine, Stahl-Arbeit, Caffeezimmer und Lottery Offices ohne Ende. Die Straße läßt, wie zu einem Jubelfeste illuminirt, die Apothecker und Materialisten stellen Gläßer, worin sieh Dietrichs Cammer Husar baden kante, mit bunten Spiritibus aus und überziehen gantze Quadratruthen mit purpurrothem gelbem, grünspangrünem und Himmelblauem Lieht. Die Zuckerbäcker blenden mit ihren Kronleuchtern die Augen, und kützeln mit ihren Aufsätzen die Nasen, für weiter keine Mühe und Kosten, als daß man beyde nach ihren Häusern kehrt; da hängen Festons von spanischen Trauben, mit Ananas abwechselnd, um Pyramiden von Aepfeln und Orangen, dazwischen schlupfen bewachende und, was den Teufel gar los macht, offt nicht bewachte weißarmigte Nymphen mit seidenen Hutehen und seidenen Schlenderchen. Sie werden von ihren Herrn den Pasteten und Torten weißlich zugesellt, um auch den gesättigten Magen lüstern zu machen und dem armen Geldbeutel seinen zweytlezten Schilling zu rauben, denn hungriche und reiche zu reitzen, wären die Pasteten mit ihrer Atmosphäre allein hinreichend. Dem ungewöhnten Auge scheint dieses alles ein Zauber; desto mehr Vorsieht ist nöthig, Alles gehörig zu betrachten; denn kaum stehen Sie still, Bums! läuft ein Packträger wider Sie an und rufft by Your leave wenn Sie schon auf der Erde liegen. In der Mitte der Strase rollt Chaise hinter Chaise, Wagen hinter Wagen und Karrn hinter Karrn. Durch dieses Getöße, und das Sumsen und Geräusch von tausenden von Zungen und Füßen, hören Sie das Geläute von Kirchthürmen, die Glocken der Postbedienten, die Orgeln, Geigen, Leyern und Tambourinen englischer Savoyarden, und das Heulen derer, die an den Ecken der Gasse unter freyem Himmel kaltes und warmes feil haben. Dann sehen Sie ein Lustfeuer von Hobelspänen Etagen hoch auflodern in einem Kreis von jubilirenden Betteljungen, Matrosen und Spitzbuben. Auf einmal rufft einer dem man sein Schnupftuch genommen: stop thief und alles rennt und drückt und drängt sich, viele, nicht um den Dieb zu haschen, sondern selbst vielleicht eine Uhr oder einen Geldbeutel zu erwischen. Ehe Sie es sich versehen, nimmt Sie ein schönes, niedlich angekleidetes Mädchen bey der Hand: come, My Lord, come along, let us drink a Glass together, or I'll go with You if You please; dann passirt ein Unglück 40 Schritte vor Ihnen; God bless me, rufen Einige, poor creature ein Anderer; da stockt's und alle Taschen müssen gewahrt werden, alles scheint Antheil an dem Unglück des Elenden zu nehmen, auf einmal lachen alle wieder, weil einer sich aus Versehen in die Gosse gelegt hat; look there, damn me, sagt ein
Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur Seite 42
Dritter und dann geht der Zug weiter. Zwischen durch hören Sie vielleicht einmal ein Geschrey von hunderten auf einmal, als wenn ein Feuer auskäme, oder ein Haus einfiele oder ein Patriot zum Fenster herausguckte. In
Göttingen geht man hin und sieht wenigstens von 40 Schritten her an, was es giebt; hier ist man (hauptsächlich des Nachts und in diesem Theil der Stadt [the City]) froh, wenn man mit heiler Haut in einem Neben Gäßgen
den Sturm auswarten kan. Wo es breiter wird, da läuft alles, niemand sieht aus, als wenn er spatzieren gienge oder observierte, sondern alles scheint zu einem sterbenden gerufen. Das ist Cheapside und Fleetstreet an einem December Abend.
Johann Wolfgang von Goethe
aus Italienische Reise ((1816/17)
Neapel, zum 17. März
Hier wissen die Menschen gar nichts voneinander, sie merken kaum, daß sie nebeneinander hin und her laufen; sie rennen den ganzen Tag in einem Paradiese hin und wider, ohne sich viel umzusehen, und wenn der benachbarte Höllenschlund zu toben anfängt, hilft man sieh mit dem Blute des heiligen Januarius, wie sich die übrige Welt gegen Tod und Teufel auch wohl mit - Blute hilft oder helfen möchte.
Zwischen einer so unzählbaren und rastlos bewegten Menge durchzugehen, ist gar merkwürdig und heilsam. Wie alles durcheinander strömt und doch jeder einzelne Weg und Ziel findet. In so großer Gesellschaft und Bewegung fühl' ich mich erst recht still und einsam; je mehr die Straßen toben, desto ruhiger werd' ich.
Wilhelm von Humboldt
(aus einem Brief an Caroline von Beulwitz 1789)
Was soll ich in dem schmutzigen Paris, in dem ungeheuren Gewimmel von Menschen? Ich war nur jetzt zwei Tage hier, und beinahe ekelt es mich schon an. von einer andern Seite hab ieh doch aber eine angenehme Empfindung. Bei dem unaufhörlichen Gewirre, bei der unbeschreiblichen Menge von Menschen verschwindet das eigene Individuum so ganz, kein Mensch bekümmert sich um einen, keiner nimmt Rücksicht auf einen, j a, man wird selbst so in dem Strom fortgerissen, daß man auch sich selbst nur wie ein Tropfen gegen den Ozean erscheint. Das hab ich gern.
Karl Philipp Moritz
St. James-Park (aus Reisen eines Deutschen in England 1784)
Dieser Park ist weiter nichts als ein halber Zirkel von einer Allee von Bäumen, der einen großen grünen Rasenplatz einschließt, in dessen Mitte ein sumpflichter Teich befindlich ist.
Auf dem grünen Rasen weiden Kühe, deren Milch man hier, so frisch, wie sie gemolken wird, verkauft. In den Alleen sind Bänke zum Ausruhen. Wenn man durch die Horse-Guards oder Königliche Wache zu Pferde, welche mit verschiednen Durchgängen versehen ist, in den Park kommt, so ist zur rechten Seite, St. James Palace, oder die Königliche Residenz, wie bekannt, eines der unansehnlichsten Gebäude in London. Ganz unten am Ende ist der Palast der Königin, zwar schön und modern, aber doch sehr einem Privatgebäude ähnlich. Übrigens gibt es allenthalben um St. James-Park sehr prächtige Gebäude, die diesen Platz um ein Großes verschönern. Auch ist vor dem halben Zirkel, der dureh die Alleen gebildet wird, noch ein großer Platz, wo die Parade gestellt wird.
Wie wenig aber dieser so berühmte Park mit unserm Berliner Tiergarten zu vergleichen sei, darf ich nicht erst sagen. Und doch macht man sich eine so hohe Idee von dem St. James-Park und andern öffentlichen Plätzen in London: das macht, weil sie mehr als die unsern in Romanen und Büchern figuriert haben. Beinahe sind die Londner Plätze und Straßen weltbekannter, als die meisten unsrer Städte.
Was aber freilich den St. James-Park einigermaßen wieder erhebt, ist eine erstaunliche Menge von Menschen, die gegen Abend bei schönem Wetter darin spazieren geht. So voll von Menschen sind bei uns die besten Spaziergänge niemals, auch in den schönsten Sommertagen nicht, als hier beständig im dicksten Gedränge auf und niedergehen. Das Vergnügen, mich in ein solches Gedränge fast lauter wohlgekleideter und schöngebildeter Personen zu mischen, habe ich heute Abend zum erstenmal genossen.
Ehe ich in den Park ging, machte ich mit meinem Jacky noch einen andern Spaziergang, der mich nur sehr wenige Schritte kostete, und doch außerordentlich reizend war. ich ging nämlich die kleine Straße, wo ich wohne, nach der Themse zu hinunter, und stieg, beinahe am Ende derselben, zur linken Seite noch einige Stufen hinab, die mich auf eine angenehme mit Bäumen besetzte Terrasse am Ufer der Themse führten.
Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur Seite 43
Von hier aus hatte ich den schönsten Anblick, den man sich nur denken kann. vor mir lag die Themse in ihrer Krümmung mit den prächtigen Schwibbögen ihrer Brücken; Westminster mit seiner ehrwürdigen Abtei zur
rechten, und London mit der Paulskirche zur linken Seite, bog sich mit den Ufern der Themse vorwärts, und
am jenseitigen Ufer lag Southwark, das jetzt auch mit zu London gerechnet wird. Hier konnte ich also beinahe die ganze Stadt, von der Seite wo sie der Themse zugewandt ist, mit einem Blick übersehen. Nicht weit von
hier in dieser reizenden Gegend der Stadt hatte auch der berühmte Garrick seine Wohnung. Diesen Spaziergang werde ich aus meiner Wohnung gewiß sehr oft besuchen.
Heinrich von Kleist
(aus einem Brief an Karoline von Schlieben 1801)
Wenn ich das Fenster öffne, so sehe ich nichts, als die blasse, matte, fade Stadt, mit ihren hohen, grauen Schieferdächern und ihren ungestalteten Schornsteinen, ein wenig von den Spitzen der Tuilerieen, und lauter Menschen, die man vergißt, wenn sie um die Ecke sind. Noch kenne ich wenige von ihnen, ich liebe noch keinen, und weiß nicht, ob ich einen lieben werde. Denn in den Hauptstädten sind die Menschen zu gewitzigt, um offen, zu zierlich, um wahr zu sein. Schauspieler sind sie, die einen der wechselseitig betrügen, und dabei tun, als ob sie es nicht merkten. Man geht kalt an einander vorüber; man windet sich in den Straßen durch einen Haufen von Menschen, denen nichts gleichgültiger ist, als ihresgleichen; ehe man eine Erscheinung gefaßt hat, ist sie von zehn andern verdrängt; dabei knüpft man sich an keinen, keiner knüpft sich an uns; man grüßt einander höflich, aber das Herz ist hier so unbrauchbar, wie eine Lunge unter der luftleeren Campane, und wenn ihm einmal ein Gefühl entschlüpft, so verhallt es, wie ein Flötenton im Orkan.
Eduard Devrient
(aus Briefe aus Paris 1840)
Hier wo niemand sieh um seinen Nachbar bekümmert, ja ihn kaum kennt, wo Alles kalt und fremd und nur auf sich bedacht an einander hinrennt. (...)
Hier, wo das ungeheuere Leben alle Individuen verschlingt, wo Einer an dem Anderen sich verzehrt, und die Gesellschaft eine bedeutende Persönlichkeit nach der anderen verbraucht und Keinem Friede und Freude dadurch wird, hier kann man lernen, weise sein. Hier fühlt man es: unser eigenstes, persönlich ewiges Leben gedeiht nur in dem stillen Kreise derer, die unserer Seele ganz und ewig angehören.
Charles Baudelaire
Die Menge (aus Der Spleen von Paris 1861/62)
Nicht jedem ist es gegeben, ein Bad in der Menge zu nehmen: Die Menge zu genießen ist eine Kunst; und nur der kann sich auf Kosten des. Menschengeschlechts ein üppig volles Maß von Lebenskraft verschaffen, den eine Fee in der Wiege mit dem Hange zur Verstellung und zur Maskerade, mit dem Haß gegen die Häuslichkeit und mit der Leidenschaft für die Reise begabt hat.
Menge, Einsamkeit: zu gleichen, sich ergänzenden Begriffen macht sie der schaffende, fruchtbare Dichter. Wer seine Einsamkeit nicht zu beleben weiß, der versteht es auch nicht, in einem geschäftigen Gedränge für sich zu sein.
Der Dichter genießt ein unvergleichliches Vorrecht; nach seinem Belieben kann er für sich oder mit anderen sein. Gleich einer umherirrenden Seele, die einen Körper sucht, schlüpft er in die Person eines jeden hinein. Ihm allein steht alles offen; und wenn manche Plätze ihm versagt zu sein scheinen, so kommt das nur, weil es in seinen Augen nicht der Mühe verlohnt, sie aufzusuchen.
l)er einsame, versunkene Wanderer schlürft einen eigenartigen Rausch in dieser Weltgemeinde. Wer sich leicht der Menge vermählt, der kennt wohl die fieberhaften Genüsse, ewig verborgen dem Egoisten, der so verschlossen ist wie ein Koffer, und dem Faulen, der sich wie ein Molluske in sich zurückzieht. Alle Beschäftigungen, alle Freuden, die sich ihm bieten, und alles Elend nicht minder: er nimmt das hin, als wenn's ihn selbst beträfe.
Und was die Menschen Liebe nennen, ist klein, ist winzig und schwach im Vergleich zu dieser unbeschreiblichen Orgie, dieser heilige Prostitution der Seele, die sich in Hochherzigkeit und Mitleid ganz hingibt dem, der sich ihr unvermutet zeigt, dem Unbekannten, der vorüberstreift.
Es ist bisweilen gut, die Glücklichen dieser Welt zu lehren - und wäre es auch nur, um für einen Augenblick ihren dummen Hochmut zu beugen-, daß es ein höheres, ein größeres, weit feineres, genußvollendeteres Glück
Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur Seite 44
gibt, als sie es kennen. Die Begründer von Kolonien, die Volksgeistlichen, die Missionare, die ans Ende der Welt verbannt sind, die wissen ohne Zweifel von diesem geheimnisvollen Rausch; und im Schoße der großen
Familie, die ihre eigene Kraft sich schuf, müssen sie bisweilen derer lachen, von denen sie um ihres so bewegten Geschickes und ihres so keuschen Lebens willen bejammert werden.
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