Schauspiel in sieben Bildern von Ödön von Horváth, Uraufführung: Mährisch-Ostrau, 11. 12. 1937, Deutsches Theater. - Thomas Hudetz, Bahnhofsvorsteher in einem größeren Dorf, un¬glücklich verheiratet mit einer dreizehn Jahre älteren, krankhaft eifersüchtigen Frau, wird von Anna, der hübschen Dorfwirtstochter, in ein Gespräch verwickelt und, ehe er sich's versieht, von ihr ge¬küsst - gerade in dem Augenblick, da er ein Signal hätte betätigen sollen. Ein Eilzug rast am Bahn¬hofsgebäude vorbei und stößt gleich darauf mit einem Güterzug zusammen. Frau Hudetz, Augen¬zeugin des verhängnisvollen Kusses und der Fol¬gen - achtzehn Fahrgäste sind ums Leben gekom¬men - sagt vor Gericht gegen ihren Mann aus, An¬na aber schwört unter Eid, dass der Bahnhofsvor¬steher das Signal rechtzeitig betätigt habe. Freige¬sprochen, wird der heimkehrende Hudetz von sei¬nen Mitbürgern als Unschuldiger gefeiert. Anna, die sich mehr zu Hudetz als zu Ferdinand, ihrem Verlobten, hingezogen fühlt, bittet den Bahnhofs¬vorsteher um eine Zusammenkunft am folgenden Abend. An einem entlegenen Ort gesteht die von Gewissensnöten heimgesuchte Wirtstochter, dass sie aus dem Leben scheiden wolle. Hudetz, der jede Schuld am Unglück abstreitet, vollzieht mit ihr die "Verlobung", die sie beide, unbewusst, schon früher herbeigewünscht hatten. In der Umarmung tötet Hudetz, halb wie im Traum, die am Leben verzwei¬felnde Wirtstochter und flieht. Während die Gei¬ster zweier Opfer des Zugunglücks Hudetz zum Selbstmord zu überreden versuchen, beschwört der Geist Annas ihn weiterzuleben, und Hudetz stellt sich, seiner Schuld inne werdend, dem Gericht.
Die Personen des Dramas gehören, wie in allen Volksstücken Horváths, dem armen Mittelstand an. Sie sind einander darin verwandt, dass sie zur Reflexion, zur wahren Erkenntnis ihrer selbst, ihrer Umwelt und der Tragweite ihres Tuns nicht oder erst zu spät fähig sind. Deshalb verstricken sie sich immer tiefer in Schuld, eine allerdings mehr erlitte¬ne als begangene Schuld. "Er hätt sich nichts zu überlegen", hatte Thomas Hudetz gesagt, als er sei¬ne wesentlich ältere Frau heiratete. Dass er sie dann aber in der Ehe nicht begehrt, zeigt, wie sehr er und seine Frau es sich vorher hätten überlegen müssen: "Du warst um dreizehn Jahre älter, du musstest es wis¬sen und fühlen." Aus diesem unreflektierten, "be¬wusstlosen" Verhalten der Figuren wächst das un¬abwendbare, im Zugunglück kulminierende Ver¬hängnis. Sowenig Hudetz über seine künftige Ehe nachgedacht hat, sowenig macht er sich bewusst, dass dann in der Ehe seine Gedanken immer wieder zu Anna schweifen. Die tyrannische Eifersucht der Frau Hudetz entspringt ihrem Wissen, dass Tho¬mas sie nicht liebt und zum Treuebruch ständig be¬reit ist, und dieser Umstand reizt wiederum Anna, dem Bahnhofsvorsteher, den sie insgeheim liebt, einen Kuss zu geben: "Er hat das Signal vergessen, weil ich ihm einen Kuss gegeben habe, aber ich hätt ihm nie einen Kuss gegeben, wenn er nicht eine Frau gehabt hätte, die er nie geliebt." Der leichtsinnige Kuss als die Ursache des Zugunglücks ist zugleich die notwendige Folge des schuldhaften Leicht¬sinns, dass die Menschen nicht mit sich zu Rate ge¬hen, dass sie ihre Gefühle ebenso wenig erhellen wie das Ausmaß ihres Tuns und sich und dem andern verschleiern, was in ihnen vorgeht. Dieser Hang zum Verschleiern, Sich-Belügen und Aneinander¬-Vorbeireden findet vorzugsweise in Horváths sze¬nischen und mimischen Anweisungen seinen Aus¬druck. Die "Stille", die immer wieder in die Dialoge einbricht, deutet auf verschwiegene, dunkle Ge¬dankengänge, und das stets wiederkehrende Lä¬cheln der Figuren soll die Gemeinheit einer Ab¬sicht, einer Meinung oder einer Rede verdecken. Im Verstummen und im Lächeln eröffnet sich die unheimliche Doppelbödigkeit des Dialogs, der fast alle Personen bis zum Schluss verfallen sind. Der Bahnhofsvorsteher wie seine Frau beteuern wie¬derholt ihre Unschuld, aber die Schlaflosigkeit, an der Hudetz seit dem Unfall leidet, und die Hysterie seiner Frau zeugen von verdrängter Schuld. "Ich bin mir keines Verbrechens bewusst", erklärt Frau Hu¬detz, und ihr Bruder antwortet hellsichtig: "Das hat nichts zu sagen. Du wirst es halt vergessen haben." Endgültig sein "Verbrechen" vergessen will auch Hudetz, wenn er zuletzt Hand an die von Gewis¬sensnot gepeinigte und an sein Gewissen appellie¬rende Wirtstochter legt. Dafür bricht dann in Ge¬stalt von Annas Geist das mühsam verdrängte Be¬wusstsein der Schuld mit gesteigerter Vehemenz in ihm durch. Indem er sich schließlich dem Gericht stellt, bestätigt er die schon vorher von Anna for¬mulierte mythische Gleichsetzung ihres gemeinsa¬men Schicksals mit dem von Adam und Eva. Die Schuld erscheint als Ausdruck der Vertreibung aus dem Paradies der Unschuld. Indem Horváth sie aus der Unkenntnis der eigenen Triebe und Handlun¬gen und aus der Verschlossenheit gegenüber den Mitmenschen herleitet, deutet er zugleich indirekt die Möglichkeit an, auf dem Wege er Erkenntnis des Selbst und der Umwelt eine neue Unschuld zu gewinnen.
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